Retro der Woche 09/2021

Vor fast 20 Jahren, Ende 2001, regte Klaus Wenda in seinem feenschach-Aufsatz „Beckmesser versus Stolzing. Reflexionen zur Legalität unter der Anticirce-Bedingung.“ (144 feenschach XI-XII/2001, S.275-277) an, diese Bedingung auch für Verteidigungsrückzüger zu nutzen. Seitdem ist dieser Aufgabentyp in vielen Zeitschriften sehr prominent vertreten, jedoch die Resonanz bei den Lösern bleibt recht gering.

Dies scheint mir mit daran zu liegen, dass bei vielen Aufgaben dieses Typs retroanalytische Ansatzpunkte mehr oder weniger fehlen und auch die Anticirce-Bedingung (aus dem Schwalbe-Lexikon: „Ein schlagender Stein (auch König) wird nach dem Schlag als Teil desselben Zuges auf seinem Partieanfangsfeld wiedergeboren; der geschlagene Stein verschwindet. Ist das Wiedergeburtsfeld besetzt, ist der Schlag illegal. Ein wiedergeborener König oder Turm gilt als neu und darf rochieren. Beim Typ Calvet sind Schläge auf das eigene Wiedergeburtsfeld erlaubt, beim Typ Cheylan nicht.“) bei der ersten Beschäftigung damit ein wenig sperrig wirkt.

In der Tat sind gerade bei vielen steinarmen Anticirce-Verteidigungsrückzügern für die Lösung eher Überlegungen wie im direkten Matt erforderlich; dies wollen wir heute an einem Beispiel betrachten.

Andreas Thoma
Šachová skladba 2014, Lob
-6 #1, VRZ Proca, Anticirce Typ Cheylan (2+2)

 

Wer könnte hier mattsetzen? Kaum vorstellbar, dass der weiße Läufer das schaffen könnte, ebenso kaum vorstellbar, dass ein anderer weißer Stein entstehen kann, der das erledigt: durch Entwandlung des Läufers und Umwandlung z.B. in eine Dame oder durch erzwungenen Entschlag durch Schwarz. Also müssen wir annehmen, dass der weiße König dies erledigt!

Dies ist ja möglich bei direktem Königskontakt, wenn e1 frei (sonst wäre es kein Schach gegen den schwarzen König) und e8 besetzt ist (sonst wäre es ein illegales Selbstschach). Der weiße König steht auf e1 sehr aktiv, da er ja (nur) von hier aus irgendwo auf dem Brett entschlagen kann.

Wenn wir uns nun auf den wK als Mattfigur festgelegt haben, müssen wir uns überlegen, wo er mattsetzen kann und welche Hindernisse dem noch entgegenstehen.

Weiterlesen

Retro der Woche 02/2021

Man kann schwerlich an Günther Weeth erinnern, ohne auf seine großartigen, phantasievollen und tiefgründigen Anticirce-Verteidigungsrückzüger einzugehen, die er mit vielen neuen Ideen versah. Meist sind sie von Wagner’scher Komplexität, doch ich habe für heute eine Co-Produktion von Günther Weeth und Klaus Wenda ausgesucht, die laut Preisrichter Thierry Le Gleuher „ausnahmsweise für diese Art von Problemen nicht sehr kompliziert“ ist. Aber elegant und witzig, das kann ich schon versprechen.
.

Günther Weeth & Klaus Wenda
Die Schwalbe 2010, Korr.; 1. Lob
#1 vor 9 Zügen, VRZ Proca, Anticirce (4+8)

 

Die Aufgabe, ursprünglich von Günther Weeth im Oktober 2005 in der Schwalbe veröffentlicht, aber noch defekt, wurde dann von ihm zusammen mit dem Wiener Spezialisten komplett überarbeitet; die originell-witzige Idee (die sei hier schon verraten: Komplettverbau einer im Diagramm noch freien Linie) blieb natürlich erhalten.

Wir erinnern uns: Im Verteidigungsrückzüger will Weiß gegen die beste Verteidigung ein Matt vor der angegebenen Zügezahl erzwingen; Schwarz verteidigt sich. Beim Typ Proca entscheidet die Gegenpartei, ob ein Rücknahmezug ein Schlagfall war und welcher Stein entschlagen wurde — alles natürlich nur mit legalen (Rück-)Zügen.

Und bei der Anticirce-Bedingung entsteht der Schläger auf „seinem circensischen Ausgangsfeld“ neu; ist dieses besetzt, ist ein Schlag unmöglich. Für Retros heißt dies u.a., dass ein Stein unter der Anticirce-Bedingung nur entschlagen kann, wenn er auf seinem Partieanfangsfeld steht. Dies schränkt einerseits die potenziellen Schlagsteine ein, für die allerdings gibt es sehr viele Entschlagmöglichkeiten, da der Entschlag ja quasi „überall“ stattfinden konnte.

Weiterlesen

Günther Weeth †

Von Werner Keym erhielt ich die traurige Nachricht, dass Günther Weeth am Montag (28.12.2020) nach längerer Krankheit verstorben ist. Ich wusste, dass es ihm nicht gut ging, hoffte aber, dass sich sein Gesundheitszustand stabilisieren würde. Mein tief empfundenes Mitgefühl gilt seiner Frau Gudrun, die ihn oft zum Beispiel nach Andernach begleitet hat, und seiner ganzen Familie.

Erst anlässlich seines 85. Geburtstages am 13. August diesen Jahres war ich noch auf seine Leistungen und Erfolge als Problemist eingegangen. Als starker Löser und pensionierter Lehrer lag ihm immer daran, seine Lieblings- und Spezialgebiete etwa in der Retroanalyse (Verteidigungsrückzüger mit der Anticirce-Bedingung) nicht nur kompositorisch (und erfolgreich!) zu bearbeiten, sondern in vielen Vorträgen und Aufsätzen zu erklären und popularisieren. Hier hatte er auch viele, sich oft als fruchtbar erwiesene Ideen wie etwa die Nutzung der Høeg-Version des VRZ zusammen mit Anticirce, in der letzten Zeit besonders die Verbindung von Anticirce und Circe im VRZ. Hierzu will ich auf seinen Artikel im Dezemberheft der Schwalbe (“Anticirce plus Circe im Verteidigungsrückzüger”, 306-2 Die Schwalbe XII/2020, S. 821–824) verweisen.

In der nächsten Zeit werde ich hier im Blog noch auf die Kompositionsleistungen von Günther zurückkommen.

Neufassung

Widmungsaufgaben sind überdurchschnittlich oft defekt — woran liegt das? Wäre das nicht mal ein Thema für ein Forschungsprojekt, eine Dissertation, zumindest eine Masterarbeit??

Das Schicksal der Inkorrektheit widerfuhr auch dem Widmungsstück zu Günther Weeths 85. Geburtstag am 13. August 2020.

Nun haben die Autoren ihre Neufassung vorgestellt, bei der ich wiederum um gründliche Prüfung bitte.

Andreas Thoma und Klaus Wenda
Neufassung; Günther Weeth zum 85. Geburtstag
#1 vor 9 Zügen, VRZ Klan, Anticirce Calvet (4+8)

 

Auf h8 steht ein Grashüpfer, auf f8 ein Läuferhüpfer, der wie ein Grashüpfer, aber halt nur auf den Diagonalen zieht.

 

Lösung:
1.LHc4:Df1[LHf8]! Dg2-f1+ 2.Ga8xDh1[Gh8] Dh2-h1/h2-h1=D+ 3.Kb1xGc1 [Ke1] Lb3-a2+ (Gc8xSc3[Gc1]+?) 4.a5xb6ep[b2] b7-b5 5.Kc2-b1 La2-b3+ 6.Kb1-c2 Lb3-a2+ 7.Kc2-b1 La2-b3+ 8.Kb1-c2 Gc8xSc3[Gc1]+ (erzwungen) 9.Ge4-a8 & vor: 1.Sb5#.
2.Ge4xDh1[Gh8]? Dh2-h1+ 3.Kb1xGc1[Ke1]…usw. wie in der Lösung 9.K -b1 & vor: 1.Sb5# scheitert nur daran, dass der für die Einleitung des Pendels nötige Zug 4.a5xb6ep[b2] illegal wäre, da a8 frei ist, sodass der sK durch LHc4 im Schach stünde.

4. Retroblog TT: Korrektur des 1. Preises

Der erste Preis im 4. Retroblog-Thematurnier ist gekocht worden: Bojan Basić fand, dass die Lösung um einen Zug verkürzt werden kann (R 5.Kg6-f5 Kg8xSg7[+wKe8] und dann weiter wie geplant).

Autor Dirk Borst verbessert — und hält die neue Version sogar für etwas besser als die ursprüngliche!

Retro der Woche 38/2020

Im Verteidigungsrückzüger ist die Verwendung von Pendelmanövern im Zusammenhang mit der „Zugwiederholungs-Regel“ sehr beliebt: Schwarz sucht sich durch einen guten Zug zu verteidigen, Weiß erzwingt dagegen Zug- und somit Stellungswiederholungen, denen dann Schwarz ausweichen muss, um die Stellung legal zu halten: In Retros gilt die Stellungswiederholungsregel automatisch, d.h. nach Erreichen einer Stellung zum dritten Male wäre die Partie automatisch remis: Deswegen kann sie im Rückwärtsspiel nicht legal auftreten, da dann ja aus einer bereits beendeten Partie weiter gespielt würde.

Auf eine raffinierte Idee verfällt Schwarz beim heutigen Beispiel; die Kommentare sind überwiegend dem Preisbericht (Richter-Trio: Brand/Gruber/Ring) aus feenschach Nr. 204 entnommen.

Günther Weeth
feenschach 2012, W. Keym zum 70. Geburtstag, 2. Preis
-12, dann #1, VRZ Proca (9+12)

 

 

 

Mit dem Schüssel verbessert Weiß die Schlagbilanz zu seinen Gunsten.

R 1.g4xBf5! Zz. führt zu folgender Retroanalyse: Die schwarzen Bauern schlugen 7x, davon 4x auf weißen Feldern (d7xc6, f7xe6xd5xc4). Die weißen Bauern schlugen 2x (cxd, fxe). Es ist nur noch ein schwarzes Schlagobjekt frei. Schwarz darf nicht g7-g6 zurücknehmen, da dann [Lf8] als Schlagobjekt entfiele und mit h7xg6xf5 zwei weitere Schläge durch Schwarz auf weißen Feldern hinzukämen. [Bb2] konnte nicht schlagen, konnte also nur unumgewandelt auf b6 geschlagen werden. Da auch [Lc1] nur auf b6, dem einzigen schwarzen Schlagfeld von Schwarz, ge-schlagen werden konnte, ergäbe sich ein Widerspruch.

Weiterlesen

Günther Weeth 85

Heute gehen ganz herzliche Glückwünsche in den Südwesten, nach Stuttgart, wo Günther Weeth seinen 85. Geburtstag feiert.

Günther begann seine Problemschach-Karriere als starker Löser; er kam über Josef Haas auch schon schnell mit der Retroanalyse in Berührung. Angeregt und begeistert von Wenda/Dittmann/Thoma stürzte er sich in den letzten Jahren kompositorisch intensiv auf schwergewichtige und meist logische, neudeutsche Märchen-Verteidigungsrückzüger, zunächst „nur“ auf Anticirce, dann z.B. in Verbindung mit magischen Wandersteinen, mit Märchensteinen und seit einiger Zeit speziell mit Circe; hierzu wird er bald einen größeren Aufsatz veröffentlichen.

Lieber Günther, nachdem das Jahr bisher ein wenig anders verlaufen ist als geplant (mehr Frankreich, weniger Andernach…), wünsche ich dir für dein neues Lebensjahr alles denkbar Gute, besonders natürlich Gesundheit und weiterhin viel Freude und Erfolg im Problemschach-Garten, speziell in den Retro-Beeten!

Andreas und Klaus haben mir eine Widmungsaufgabe für diesen Glückwunsch-Blog zur Verfügung gestellt; herzlichen Dank dafür!

Andreas Thoma und Klaus Wenda
Urdruck; Günther Weeth zum 85. Geburtstag gewidmet
#1 vor 9 Zügen, VRZ Klan, Anticirce Cheylan (4+8)

 

Bei den seitlich liegenden Steinen handelt es sich um Leo h8, Vao f8, Pao c1,d1,e2. Ein Leo zieht nichtschlagend wie eine Dame, er wirkt und schlägt wie ein Lion; der zieht wie ein Grashüpfer, allerdings beliebig weit hinter den Bock, soweit die Felder zwischen Bock und Zielfeld frei sind. Beim Vao bzw. beim Pao sind, wie man schon anhand der Symbole vermuten kann, Zug- und Wirkungslinien auf die Läufer- bzw. Turmlinien eingeschränkt.

Der weiße König steht wegen der Anticirce Cheylan-Form übrigens nicht im Schach durch Pc1.

Wie immer findet ihr die Lösung in etwa einer Woche hier; ich fände es klasse, wenn sich möglichst viele Leser an der Aufgabe versuchen.

Lösung

1.LEa8xTh1[LEh8]! Th2-h1+/h2-h1=T+ 2.VAc4xDf1[VAf8] Dg2-f1+ 3.Kb1xLa2 [Ke1] Lb3-a2+ (PAc8xSc3[PAc1]+?) 4.a5xb6ep[b2] b7-b5 5.Kc2-b1 La2-b3+ 6.Kb1-c2 Lb3-a2+ 7.Kc2-b1 La2-b3+ 8.Kb1-c2 PAc8xSc3[PAc1]+ (erzwungen) 9.Sb5-c3 & vor: 1.LExe4[LEe8]#

1.LEc6,h5xTh1?[LEh8] Th2-h1+/h2-h1=T+ 2.VAc4xDf1[VAf8] usw. wie in der Lösung 9.LEe8-c6,h5 & vor: 1.Sb5# scheitert nur daran, dass der für die Einleitung des Pendels nötige Zug 4.a5xb6ep[b2] illegal wäre, da a8 frei ist, sodass S durch VAc4 im Schach stünde]

1.LEa8xDh1[LEh8]? Dg2-h1+! 2.VAc4xDf1[VAf8]? Die sD kann das Schach nicht aufheben.

Mit wKc2 kann Schwarz das Schach …PAc8xSc3[PAc1]+? nicht aufheben, PAc1 Retro-gefesselt ist; sPAe2 würde Schach bieten. Der wK muss daher im Zuge des Pendelns auf b1 stehen. Dies verhin-dert auch die sonst mögliche Abwehr & vor: 1.LExe4[LEe8]+ PAa1!

Nachtrag 27.8.2020: Wie Klaus Wenda mitteilte, ist die Aufgabe noch defekt; Andreas und Klaus arbeiten an einer Korrektur!

Nachtrag 28.12.2020: Den Autoren Andreas Thoma und Klaus Wenda gelang nun eine (jetzt hoffentlich korrekte) Neufassung des Stücks.

Längstzüger

Die “Längstzüger” Bedingung stammt schon aus dem Jahr 1913 und wurde von Thomas R. Dawson (wem sonst??) erfunden; sie wird im Schwalbe-Lexikon so definiert: “Von den normal möglichen Zügen unter Beachtung von Schachgeboten und illegalen Selbstschachs muss Schwarz den geometrisch jeweils längsten Zug machen; zwischen gleichlangen Längstzügen kann er frei wählen…”

Diese Bedingung wird häufig zusammen mit Selbstmatts angewendet, führt aber auch bei Retroaufgaben zu interessanten Effekten — hier wird natürlich angenommen, dass die Bedingung auch schon in den letzten Zügen vor Erreichen der Diagrammstellung galt.

Versucht euch heute doch einmal an dem Verteidigungsrückzüger-Wenigsteiner; die Lösung veröffentliche ich hier wie immer in einer Woche.

Robert Lürig
Die Schwalbe 1933
#1 vor 2 Zügen, VRZ Proca, Längstzüger (3+1)

 

 

 

Lösung

Satz: 1.g7#.

R: 1.Bh5xBg6! erzwingt 1.– Bf7xSg6 (ohne Springer auf g6 wäre f7-f5 länger gewesen!) 2.Se5-g6 (leider auch 2.Se5xSg6) und vor: 1.Sxf7#

Die drei anderen, gleichzeitig vom Autor veröffentlichten Längstzüger-Procas waren nebenlösig, in der Schwalbe hieß es 1934 dazu: “Das neue Gebiet ist mit Wolfsgruben durchsetzt und Fußangeln gespickt!”; die NL-Gefahr ist riesig.