Retro der Woche 12/2024

Luigi Ceriani (23.1.1894 – 8.10.1969) war der sicherlich bedeutendste Retrokomponist und -theoretiker der Mitte des letzten Jahrhunderts. Seine beiden Bücher „32 Personaggi e 1 Autore“ (1955) und „La Genesi delle Posizioni“ (1961), in blauem Leinen gebunden im Selbstverlag erschienen, zieren meinen Schach-Bücherschrank. Obgleich ich kein „Schachbuchsammler“ im eigentlichen Sinne bin, habe ich damals bei der Versteigerung des Problem-Nachlasses von Hans Hofmann eine für meine Verhältnisse Unsumme für die Bücher geboten – das musste einfach sein! („Retrograde Analysis“ besitze ich übrigens nur als Fotokopie…) Heute sind die Bände – ebenso wie ein späterer Nachdruck durch seinen Sohn – wohl komplett vergriffen und nur noch antiquarisch in Versteigerungen zu erhalten.

In seinem Todesmonat erschien das heute ausgesuchte Stück, das übrigens auch Andrey Frolkin gerade in The Problemist vorgestellt hat, in der Schwalbe, die eines seiner bevorzugten Publikationsorgane war.

Luigi Ceriani
Die Schwalbe 1969, 2. Preis
Löse die Stellung auf! (13+12)

 

Schauen wir uns die Schlagbilanzen an, so sehen wir auf beiden zunächst nur jeweils einen Bauernschlag (cxXb und hxYg). Zwei weitere Schläge durch Weiß ergeben sich durch die Struktur auf der 7. und 8. Reihe: [Lf8] wurde offenbar zu Hause geschlagen, und auch [Ta8] konnte höchsten mal in seinen Vorgarten b8 treten, ansonsten sein Grundstück aber nicht verlassen; auch er starb also in heimischen Gefilden. Darüber hinaus fehlen bei Schwarz noch die Dame sowie ein Bauer vom Königsflügel ([Bf7] oder [Bh7].

Bei Weiß ist nur klar, dass seine Dame sowie die beiden Springer fehlen, wer allerdings wo geschlagen wurde, ist aus dem Diagramm nicht ersichtlich. Also müssen wir nach anderen Indizien suchen, und die ergeben sich bei Auflöse-Aufgaben wir hier häufig aus der Frage, wie denn der meist vorhandene Retroknoten geöffnet werden könne? Hier umfasst dieser Knoten die gesamte südliche Bretthälfte.

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100 Jahre Schwalbe

Heute jährt sich zum hundertsten Male die Gründung der – wie sie heute heißt – Schwalbe, deutsche Vereinigung für Problemschach e.V.. Am Sonntag, dem 10 Februar 1924 kamen auf Einladung von Anton Trilling in Essen-Rüttenscheid 15 Schachfreunde zusammen, um eine „Vereinigung von Problemfreunden“ zu gründen. Die ersten Konzepte hierfür stammten von Trilling und dem Problemredakteur des Essener Anzeigers, dem Kieler Wilhelm Maßmann. Am 20. Januar 1924 trafen sich bereits 14 Schachfreunde zu einem inoffiziellen Treffen, bei dem die Gründung und auch die zukünftige Satzung vorbereitet wurden.

Die lebhafte Geschichte der Schwalbe kann in Wolfgang Dittmanns Buch „Der Flug der Schwalbe Geschichte einer Problemschach-Vereinigung“ aus dem Jahr 1988 (zweite erweiterte und aktualisierte Auflage von Hans Gruber und mir aus dem Jahr 2018, jährlich mit Nachträgen aktuell gehalten) nachgelesen werden. Das Buch kann übrigens beim Bücherwart der Schwalbe noch bezogen werden.

Das wäre sowieso meine Empfehlung für heute: Bei einem Sekt, einem guten Glas Wein mal wieder im „Flug der Schwalbe“ lesen und auch noch diesen retroanalytischen Leckerbissen von zwei Schwalbe-Gründern “zwischendurch” zu lösen.

Hugo August & Anton Trilling
Die Schwalbe 1940
Welches waren die letzten 15 Einzelzüge? (11+14)

 

Meines Wissens ist dies der noch immer gültige Rekord des dargestellten, spektakulären Themas. Die Lösung findet ihr hier wie immer in etwa einer Woche!

Viel Spaß beim Lösen und Geburtstag feiern!

Lösung

R: 1.e7-e6+ Th6xDg6+ 2.Dh5-g6+ Sg6-e5+ 3.Tc5xDd5+ Db3-d5+ 4.Tc4xLc5+ Lf2-c5+ 5.Kd5-d6+ e3-e4+ 6.Tc2-c4+ Tc4-f4+ 7.Th3-f3+ Tg2-g5+ 8.Dh4-h5+

Das ist schon bewundernswert: 15 Schachgebot-Rücknahmen in 15 letzten eindeutigen Zügen! Dmitri Baibikov hatte ja schon dankenswerter Weise auf den vorherigen Rekord (mit „nur“ zehn Themazügen, allerdings ohne Umwandlungssteine) hingewiesen. Das könnt ihr euch natürlich auch in der PDB anschauen: P1012930.

Retro der Woche 02/2024

In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre begann die Blütezeit der eindeutigen Beweispartien, die heute einen qualitativ und quantitativ bedeutenden Teil der Retro-Aufgaben bilden. Eine hervorragende Dokumentation der Zeit bis etwa 1990 ist Wilts, Gerd und Frolkin, Andrej: Shortest Proof Games. The Rubic’s Cube of a Chess Player. A collection of more than 160 Shortest Proof Games. Karlsruhe: Selbstverlag 1991 — immer noch sehr zu empfehlen!

Dort findet sich als Nr. 49 auch unsere heutige Aufgabe zweier bedeutender Beweispartie-Pioniere, wobei Andrej ja auch 40 Jahre später noch aktiv.

Dmitri Pronkin & Andrej Frolkin
Themes-64 1984, 3. ehrende Erwähnung
Beweispartie in 17,5 Zügen (14+15)

 

Schauen wir zunächst nach den fehlenden Steinen: Bei Weiß fehlt [Be2] sowie ein Turm, der c6 geschlagen wurde, bei Schwarz ist [Lc8] verschwunden.

Und dann machen wir uns Gedanken um die Zugreihenfolge, zumindest in Teilen. Besonders interessant hierfür ist der Südwesten mit wTa2 und sSa1. Beide weißen Türme können in drei Zügen nach c6 gelangen (Ta1-a3-c3-c6 bzw. Th1-e1-e6-c6) – das scheint für Th1 zu sprechen, da dann der ungeschlagene Turm nur einen Zug benötigt. Der Springer muss bereits auf a1 stehen, bevor Bb3 gespielt werden kann, was gleichzeitig [Lc1] befreit. Somit kann nicht Th1-a1-a2 erfolgt sein, sondern [Th1] benötigt drei Züge nach a2 (Th1-b1-b2-a2), also zwei mehr.

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Niklas von Wyle

Ihr kennt den Komponisten Niklas von Wyle nicht? Na ja, moderne Zyklusthemen oder Proof Games of the Future hat er nicht gebaut: Das sind aber auch Themen, die nach seiner Zeit ihren Höhepunkt an Popularität hatten — und seine Zeit lag in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts!

Ralf Binnewirtz hat sich das Manuskript von Wyles vorgenommen, stellt es in einem Geschichts-Beitrag hier auf dieser Site vor — und publiziert gleichzeitig die Korrektur eines im Manuskript urgedruckten Selbstmatts.

Spannende Lektüre kann ich euch wieder versprechen!

Retro der Woche 12/2023

Vor ein paar Tagen hat mich eine Mail, die ich bekommen habe, an einen alten Aufsatz von mir erinnert, den ich im Jahr 1996 in feenschach veröffentlicht hatte. Eine der Aufgaben daraus, aus dem „frühen Mittelalter der Beweispartien“ von vor 32 Jahren, möchte ich euch heute zeigen.

Michel Caillaud
Phénix 1991, 5. ehrende Erwähnung
Beweispartie in 17,5 Zügen (14+13)

 

Schon auf den ersten Blick erkennt man, dass uns das Zählen der im Diagramm sichtbaren Züge kaum weiter bringt. Selbst die sichtbaren Doppelbauern scheinen nicht viel hilfreiche Information abzugeben — auch, weil nur jeweils ein Schlag sichtbar ist, die anderen verborgen sind.

Aber bei etwas genauerem Hinschauen fällt dann doch etwas auf:

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Andrej Frolkin 65

Heute gehen herzliche Glückwünsche zum 65 Geburtstag an Andrej Frolkin nach Kiew: Mir ist klar, dass dies kein „normaler“ Geburtstag in dieser furchtbaren Kriegssituation sein kann; umso mehr wünsche ich dir, lieber Andrej, von Herzen alles Gute für dein neues Lebensjahr: Gesundheit, Unversehrtheit – und natürlich ganz besonders Frieden für dich und deine Lieben, deine Freunde!

Über Andrej muss ich hier nicht viel berichten: Dass er ein großartiger Komponist, Verfasser toller Aufsätze, eminenter Preisrichter ist, das wissen wir alle. Und ich freue mich sehr, dass du, Andrej diesen Blog buchstäblich vom ersten Tag an freundschaftlich begleitest, dafür bin ich dir sehr dankbar!

Besonders toll und erfreulich finde ich, dass du in dieser so schweren Zeit im Problemist die Rubrik „Selected Retros“ übernimmst.

Aus der „Urzeit der eindeutigen Beweispartien“, dem Jahr 1982, also von vor 40 Jahren, habe ich ein Gemeinschaftsstück zweier junger Talente, die das Genre „KBP“ in den folgenden Jahren entscheidend prägen sollten, herausgesucht – das Veröffentlichen von Gemeinschaftsaufgaben und -artikeln ist noch immer eine sehr typische Eigenschaft von Andrej:

Andrej Frolkin & Michel Caillaud
feenschach 1982, 1. Lob
Beweispartie in 22,5 Zügen (15+12)

 

 

Versetzt euch zurück in die Anfangszeit der Beweispartien, versucht sie einfach zu lösen! Und ansonsten kommt die Lösung hier wie immer in etwa einer Woche.

Lösung


Valerian Onitiu 8.4.1872-31.12.1948

Heute möchte ich an den 150. Geburtstag von Valerian Onitiu (8.4.1872-31.12.1948) erinnern. Geboren in Sfantul Gheorghe (St. Georg) besuchte er die Schule in Szeged und studierte an der Universität in Budapest; er schlug dann die Laufbahn eines Hochschullehrers der Mathematik ein.

1894 veröffentlichte er sein erstes Schachproblem; er war auf quasi allen Gebieten des Problemschachs bewandert; speziell für seine Mehrzüger und Selbstmatts, dann auch Hilfsmatts wurde er bekannt. Zeitlebens hat er sich auch mit Retros beschäftigt; einige seiner Stücke sind in Retrograde Analysis von Dawson und Hundsdorfer (1915) zitiert. Dabei hat er sich schon früh auf das, was wir heute „klassische Retroanalyse“ nennen – also Aufgaben mit reinen Retroforderungen ohne künstliche Verbrämung in direkten Mattaufgaben – konzentriert und auch Märchenelemente (Zylinderschach) untersucht, was dann später Luigi Ceriani wieder aufgegriffen hat.

Das Stück, das ich hier vorstellen möchte, ist „für zwischendurch“ schon recht komplex (es schaffte es ins FIDE-Album), aber der Rücknahme- und auch der Mattzug sind nicht so schrecklich fernliegend, und anschließend ist die Auflösung bis zur Öffnung des Käfigs im Osten auch klar begründet: Schwarz darf natürlich nicht retropatt werden!

Valerian Onitiu
Die Schwalbe 1933, 1. Preis
Weiß nimmt seinen letzten Zug zurück, dann #1 (15+10)

 

 

Natürlich solltet ihr die Auflösung der Stellung finden – Viel Freude an der Aufgabe! Und wie immer: Die Lösung kommt hier in etwa einer Woche.

Lösung

R 1.0-0-0 – damit ist sTf2 fixiert und g7-g5 steht als letzter schwarzer Zug fest; Matt also durch 1.hxg6ep#.
Die weitere Auflösung: R 1.0-0-0 g7-g5 2.Le4-h7 g5-g4 3.Lc6xBe4 e5-e4 4.La4-c6 e6-e5 5.Ld1xBa4 a6-a5 6.Le2-d1 a7-a6 7.Lf1-e2 Kg4-h4 8.e2xD/Sf3+ etc.

Josef Haas

Heute, anlässlich seines 100. Geburtstages, gedenken wir des großartigen Stuttgarter Retrokomponisten Josef Haas (28.1.1922 – 11.11.2003).

Die Verbindung von Retroanalyse und seinem Beruf als Erster Hauptkommissar beim Landeskriminalamt in Stuttgart bringt er nicht nur mit dem Titel, sondern auch schon im allersten Absatz seines Büchleins „Tatort Schachbrett“ zum Ausdruck:

Nach einer Anregung des deutschen Kriminalisten Dr. Hans Schneickert sollte bei der Lösung ei-nes Kriminalfalles nach folgendem Schema vorgegangen werden:

WAS WO WANN WIE WOMIT WARUM und WER…?

Die Beantwortung dieser Fragen werde in der Regel zur raschen Aufklärung der Tat und zur Überführung des/der Täter(s) beitragen. Ein ähnliches methodisches Vorgehen ist auch bei der Lösung einer Retro-Schachaufgabe ratsam …

Hier im Blog habe ich schon mehrere klassische Retros (er hat sich aber auch etwa mit Circe-Retros beschäftigt) von Josef Haas vorgestellt — nutzt einfach mal die Suchfunktion, wenn ihr die noch einmal anschauen wollt: Es lohnt sich immer!

Heute möchte ich euch seinen Erstling vorstellen: Der hat beachtliche Tiefe und hat in einem hochklassigen Turnier gleich eine hohe Auszeichnung erhalten. Schaut euch das Stück vielleicht bei einem Glas Württemberger einmal an – nur für „zwischendurch“ erscheint es mir schon recht komplex zu sein.

Josef Haas
Die Schwalbe 1968, 3. Preis; Dr. Karl Fabel gewidmet
Weiß nimmt so zurück, dass er in einem Zug mattset-zen kann. (10+11)

 

 

Und wie stets folgt die Lösung hier in etwa einer Woche.

Lösung

Lösung: R Db2xLa3 & vor: 1.exd6ep#
Schlagbilanz: [Bb7] schlug [Ba2], [Bc7] schlug [Lc1], [Bh7] schlug [Bf2] und [Bd2] sowie einen Springer und einen Turm. [Bb2] schlug einen Turm, [Bc2] schlug auf seinem Weg nach e5 einen Springer und die Dame; [Bh2] schlug den anderen Springer.

Daher kommen folgende Züge nicht als letzter schwarzer Zug in Frage: cxd3, d4-d3, cxd5, dxe6, cxb3 ([Lc1] wurde auf einem schwarzen Feld geschlagen) und e7-e6. Auch die Züge bxa5, d6-d6 sowie bxa6 scheiden als letzter schwarzen Zug aus (illegale Schachs / illegale Läuferstellung).

Letzter schwarzer Zug war demnach d7-d5, davor geschah Sd5-b4+.