Retro der Woche 05/2024

Nach dem ersten Preis der Beweispartien im Schwalbe-Retro-Informalturnier 2003 will ich euch heute den ersten Preis der „klassische“ Abteilung vorstellen. Bei dem Namen über dem Diagramm könnt ihr schon exquisite Retrokunst erwarten – und die wird euch hier auch geboten!

Die Kommentare der Löser waren schon sehr positiv („Erstaunlich, wie das so genau festgelegt ist.“, „Solche langen, eindeutigen Rücknahmen gefallen mir immer sehr gut“), und dann ist die Begeisterung des Preisrichters Josef Kutscher nicht so verblüffend: „Hervorragende Choreographie der weißen Figuren und der schwarzen Bauern, deren Wege sich mehrmals kreuzen! Das Ganze läuft bei absoluter Eindeutigkeit mit uhrwerkartiger Präzision ab.“ Habe ich damit schon zu viel verraten?

Thierry Le Gleuher
Die Schwalbe 2003, 1. Preis
Letzte 32 Einzelzüge (13+15)

 

Sofort sieht man, dass der weiße König nur durch die schwarze Rochade ins Schach geraten sein kann, damit steht der erste Rücknahmezug bereits fest. Der hat aber den für die weiteren Rücknahmen erschwerenden Effekt, dass damit König und Turm Retro-unbeweglich werden, Schwarz damit erst einmal nur Bauern-Rücknahmen zur Verfügung hat – und so über kurz oder lang Retropatt droht.

Kann Weiß denn den Knoten im Südwesten nicht fix mittels c2-c3 auflösen – seht ihr, warum das noch nicht geht? Dafür schauen wir uns erst einmal die geschehenen Schlagfälle an.

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Retro der Woche 45/2023

Vor vier Wochen habe ich den zweiten Preis beim Champagne-Turnier 2023 aus der argentinischen Werkstatt Osorio/Lois vorgestellt. Heute möchte ich euch den zweiten Preis aus dem StrateGems Informalturnier 2005 zeigen — wieder von diesem Duo. Den ersten Preis in diesem Turnier könnt ihr euch als Retro der Woche 18/2021 noch einmal anschauen.

Jorge J. Lois & Roberto Osorio
StrateGems 2005, 2. Preis
Beweispartie in 21 Zügen (14+14)

 

Bei Weiß fehlen zwei Bauern, bei Schwarz das Läuferpaar; [Lc8] wurde also offensichtlich auf b3 geschlagen. Was ist mit dem anderen weißen Schlag? Der kann nicht dxc3 gewesen sein: Dann hätte sich [Bc2] zwar auf c6 opfern können, aber Schwarz bleibt (sowieso) kein Schlag des [Be2], aber auch der kann nicht mehr geschlagen haben, um sich umzuwandeln.

Also stamm Bc3 von c2, und [Bd2] sowie [Be2] haben sich auf d8 umwandeln müsse. Dabei hat [Be2] also [Lf8] geschlagen — auf e6 oder auf e4.

Und was können wir aus dem Zählen der schwarzen Züge ableiten?
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Retro der Woche 41/2023

Vor einigen Tagen hatte ich hier bereits auf den nun vollständigen Preisbericht zum Champagne-Turnier 2023 hingewiesen. Das Ergebnis wurde bereits auf dem WCCC in Batumi bekanntgegeben, die Schriftfassung ließ aus verschiedenen Gründen etwas auf sich warten und konnte so auch ein paar notwendige Korrekturen berücksichtigen.
Gefordert waren Rochade-Retros, auch Märchenelemente waren zugelassen. Und so gewann Dirk Borst den ersten Preis in der Beweispartien-Abteilung mit der Zusatzbedingung “Circe Rex Inclusive”.

Heute möchte ich den zweiten Preis vorstellen, eine wie ich finde sehr bemerkenswerte Darstellung einer Pseudo-Rochade aus der argentinischen Werkstatt Osorio/Lois.

Roberto Osorio & Jorge J. Lois
ChampagneTurnier 2023, 2. Preis Abteilung A
Beweispartie in 25 Zügen (13+14)

 

Eigentlich spricht auf den ersten Blick nichts gegen eine normale kurze Rochade der schwarzen Partei: Über die b-Linie könnte sTg4 heraus kommen, und wir müssen nur Weiß irgendwie den [Lf8] verschwinden zu lassen. Aber betrachten wir zunächst die fehlenden Steine: Bei Schwarz fehlen beide Läufer: der eine ist offenbar zu Hause, der andere auf f3 geschlagen worden.
Bei Weiß fehlen offenbar die Dame sowie a- und b-Bauer, die beide nicht geschlagen haben können. Also starb [Ba2] auf a6 und die weiße Das auf g6, während [Bb2] ohne geschlagen zu haben verschwand: Entweder als Bauer auf der b-Linie oder als Umwandlungsstein irgendwo.

Und was ist mit den sichtbaren Zügen? Da haben wir bei Weiß (0-0-0 vorausgesetzt) 2+2+2+3+3+5=17, bei Schwarz nur (0-0 vorausgesetzt) nur 1+0+3+0+3+2=9!!

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Retro der Woche 25/2023

Heute vollendet René J. Millour sein achtes Lebensjahrzehnt, und dazu gehen meine herzlichen Glückwünsche nach Frankreich!

René begeistert mich immer wieder mit großartigen Märchen-Retros, die meist im Diagramm völlig harmlos ausschauen, aber dann sehr eleganten Inhalt mit niemals erwartetem Tiefgang zeigen.

Solch ein Stück habe ich für heute ausgesucht, das ich etwas anders als üblich präsentieren werde: Ich zitiere im Wesentlichen aus dem Preisbericht von Hans Gruber, Uli Ring und mir — übrigens aus dem in der letzten Woche erwähnten Schwalbe-Heft 233.

René J. Millour
Die Schwalbe 2001, 1. Preis
Forderungen im Text, Monochromes Schach (6+8)

 

Gefragt ist nach
a) In welcher Reihenfolge wurden die Springer geschlagen?
b) Ist die schwarze O-O noch möglich?
c) Wie viele Züge hat der weiße König mindestens ausgeführt?
im monochromen Schach (Schwalbe-Lexikon: „Es sind nur Züge erlaubt und legal, deren Ausgangs- und Zielfeld von gleicher Farbe sind. Das gilt auch bei der Beurteilung von Matt und Patt.“)

Zunächst der Kommentar von uns drei Richtern, anschließend, nach dem „weiter“, die ausführliche Lösungsangabe, wie wir sie für den Preisbericht geschrieben hatten.

„Auch unter vielen komplexen Monochrom-Retros des Autors ist dieses Problem eines der Topstücke, vor allem, weil das extrem komplizierte Element `Wer zum Henker konnte Stein X schlagen?’ gleich mehrfach zelebriert wird. Die ökonomie-stiftende Wirkung der Monochrom-Bedingung wird ungeheuer gut genutzt, was sich vor allem in der atemberaubend geringen Steinzahl und im Fehlen jeglichen sichtbaren Bauernschlags im Diagramm zeigt. Die in der Konstruktion verborgenen Retro-Überlegungen sind tiefgründig und reichhaltig.“

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Retro der Woche 17/2023

Die Geschichte der eindeutigen Beweispartien ist ja verblüffend kurz, und so gab es noch vor 30 Jahren echte Pionierarbeit und Rekordjagden in den unterschiedlichsten Gebieten — besonders natürlich im Bereich „einheitlicher“ Umwandlungen, etwa in gleiche Steine oder gleiche Art des „Verschwindens“.

Aber natürlich ist man bei solchen Rekordsuchen nicht auf Umwandlungen angewiesen, wie Andrej Frolkin mit der heutigen hübschen Aufgabe zeigt.

Andrej Frolkin
Europe Echecs 1993
Beweispartie in 22 Zügen (14+13)

 

Mit dem Blick aufs Diagramm habt ihr vielleicht schon eine Thema-Vermutung? Ich tippe mal, die ist nicht falsch — aber auch nicht ganz präzise!?

Sicherlich fällt euch schon beim ersten Blick der weiße König auf, der mindestens elf Züge gemacht haben muss, um nach a6 zu gelangen: Dazu muss er ja den Umweg über die h-Linie absolvieren. Um den Marsch starten zu können, muss Schwarz aber erst einmal den Lf1 beseitigen, der sich ja selbst nicht vom Fleck bewegen konnte.

Welcher schwarze Stein hat das erledigt?

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Retro der Woche 14/2023

Ich finde es immer wieder faszinierend, wie kleine Änderungen der Diagrammstellung große Auswirkungen auf die Lösungen haben können. Bei Retroaufgaben ist dies recht schwierig, dies mit wirklich signifikante Änderungen im Spiel interessant darzustellen, da ja „eigentlich“ zwei sehr ähnliche Stellungen eine sehr ähnliche Historie haben müssen.

Heute möchte ich euch ein Stück zeigen, in dem „unterschiedliches Retrospiel“ aus meiner Sicht sehr überzeugend demonstriert wird.

Bernd Gräfrath
feenschach 2003 , 5. Lob
Geringste Zahl der Königszüge? b) Df1>g1 Schlagschach (14+14)

 

Beim Schlagschach verliert ein König bekanntlich seine königliche Eigenschaft, darf also geschlagen und auch erwandelt werden. Und wie der Name schon andeutet, müssen mögliche Schlagzüge durchgeführt werden; bei mehreren Möglichkeiten besteht „freie Auswahl“.

Natürlich fällt sofort der schwarze König im weißen Lager auf, und schnell ist klar, dass er entweder der Originalkönig sein muss oder durch Umwandlung des [Bc7] entstanden ist. Und nun ahnen wir vielleicht schon, was die Zwillingsbildung nun bewirkt? Und noch ein Hinweis für eure eigenen Lösungsansätze: Überlegt euch auch, wie der weiße Springer unter der Schlagzwang-Bedingung nach a8 gelangen konnte?

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Retro der Woche 10/2023

Die gerade erschienene März-Ausgabe des Problemist enthält einen ausführlichen Artikel zum Schweizer Markus Ott (30.01.1960–01.10.2021): Er war ein hervorragender Komponist, der besonders für seine Hilfsmatts und Märchenaufgaben bekannt ist.

In seinen „jungen Jahren“ hat er allerdings auch einige interessante Retros gebaut; ein klassisches Stück aus dieser Zeit möchte ich euch heute zeigen.

Markus Ott
feenschach 1982, 3. Lob
Erster Zug des weißen Turms? (5+11)

 

Anfang der 1980er Jahre wurden in feenschach möglichst ökonomische klassische Auflöse-Aufgaben untersucht, in denen nicht nach dem letzten, sondern nach dem ersten Zug eines Steins gesucht wurde. Eine Vielzahl interessanter Stücke ist dabei entstanden.

wKb8 konnte offenbar nur via g6, f7, e8 auf die achte Reihe gelangen, daher kann Schwarz die offensichtlichen möglichen Züge h7-h6 oder f7xXe6 noch nicht zurücknehmen. Die Rücknahme eines Königszuges würde in ein illegales Retroschach führen, sodass Schwarz nicht als letzter gezogen haben kann; also müssen wir mit der Rücknahme eines weißen Zuges beginnen.

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Retro der Woche 08/2023

Ach wie gut, dass Schach, dass besonders Problemschach so seriös ist! Ach wie gut, dass auf dem Schachbrett keine vom Alkohol geförderten Feierexzesse, wie wir sie gerade in den Karnevalshochburgen nicht nur am Rhein erleben, denkbar sind!

Wirklich nicht? Spätestes 1987 hat auch das Problemschach seine alkoholische Unschuld verloren, als John Beasley entdeckte, dass auch Schachfiguren Alkoholprobleme haben könnten — Beasley nannte sie deswegen „fuddled men“ — beschwipste Steine: Sie sind dann nach einem eigenen Zug so angeschlagen, dass sie erst einmal einen Zug „Auszeit“ nehmen müssen — wahrscheinlich sich an einem Laternenpfahl festhaltend. In dieser Zeit können sie auch den gegnerischen König nicht bedrohen.

Irgendwann entdeckte Bernd Gräfrath, dass man die beschwipsten Steine überreden konnte, bei Beweispartien mitzuwirken — die Folge davon war ein Artikel hier im Blog, der mit der Ausschreibung des 5. Retroblog-Thematurniers verbunden war.

Und aus diesem Thematurnier, dessen Preisbericht am 10.4.2020, nicht einmal zwei Wochen nach dem Einsendeschluss, erschien, möchte ich am Karnevalssonntag das Preisproblem zitieren.

Michel Caillaud
5. Retroblog-Thematurnier 2020, Preis
Beweispartie in 23,5 Zügen, Fuddled men (15+15)

 

Der fehlende weiße Stein ist offenbar Bg2, er wurde auf c6 geschlagen. Offenbar nicht direkt, [Bg2] muss also umgewandelt haben, um sich selbst schlagen zu lassen oder das weiße Schlagopfer zu ersetzen.

„Klar, sieht man doch: 24.gxh8=T+!“ sagt uns das orthodoxe Auge, um beim zweiten Blick festzustellen, dass das illegal wäre — und das sogar aus mehreren Gründen: Bei Schwarz fehlt nur Lc8 — der aber kann nicht auf dem schwarzen Feld h8 geschlagen worden sein. Und selbst wenn: Wie käme denn [Bg2] bis nach g7 — an sBg6 vorbei? Dafür fehlen Schlagobjekte.

Also müssen wir irgendwie das Ausruhen am Laternenmast ausnutzen …

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