Retro der Woche 32/2023

Natürlich können wir nicht über Retros in feenschach reden, ohne auch experimentelle Märchen-Retros zu betrachten. Ausgesucht habe ich für euch eine Aufgabe von Manfred Rittirsch, die wahrscheinlich erstmals die Nutzung der Märchenbedingung Isardam in einer Beweispartie zeigt. Gut zehn Jahre später würde diese Kombination intensiver untersucht.

Hier die Definition von Isardam aus dem Schwalbe-Lexikon:

„Es sind solche Züge illegal, die dazu führen, dass ein Stein einen gegnerischen Stein der gleichen Art beobachtet. Ein König steht daher nicht im Schach, wenn durch den virtuellen Schlag des Königs ein Stein einen gegnerischen Stein der gleichen Art beobachten oder von einem solchen beobachtet werden würde.“

Das erklärt auch den Namen: Es ist quasi das Gegenteil von Madrasi, wo sich gegnerische Steine gleicher Art, die sich beobachten, lähmen — „Isardam“ ist also „Madrasi rückwärts“.

Manfred Rittirsch
feenschach 1999
Beweispartie in 15 Zügen, Isardam (11+14)

 

Aus meiner Sicht ist diese Aufgabe ganz typisch für viele Erstdarstellungen einer Märchenbedingung mit einer dafür neuen Forderung: Häufig auf einen besonders spektakulären Zug konzentriert — und so ist es hier auch! Ich will schon einmal verraten, dass die ersten 11,5 Züge komplett orthodox sind — als ob dann beim zwölften Zug Schwarz einfiele, dass es doch noch eine Bedingung gebe…

Dennoch hilft uns die Bedingung auch schon vorher für die erste Analyse:

Bei Weiß fehlen drei Bauern, ein Turm und [Lc1]; Schwarz hat aber bereits drei Doppelbauern. Was ist daran so bemerkenswert??

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Retro der Woche 27/2023

Zurzeit richte ich die Retros des 11. FIDE World Cup, und da fiel mir auf, dass ich von den letzten beiden hier jeweils nur den ersten Platz vorgestellt hatte. Das letztjährige Turnier gestattete ebenso wie in diesem Jahr ausschließlich orthodoxe Beweispartien, dort belegte eine Aufgabe des Inders Velmurugan Nallusamy den ersten Platz.

Die ziemlich kurze Aufgabe, die den zweiten Platz belegte, gefällt mir ebenfalls sehr gut — auch, weil man direkt durch die Diagrammstellung auf die Thematik gestoßen wird, ohne dass dadurch schon alles klar ist (eigentlich ist da noch gar nichts klar…).

Valeri Semenenko
10 FIDE World Cup 2022, 2. Preis/Silbermedaille
Beweispartie in 15 Zügen (14+14)

 

Sicher ist auch euch sofort der Turm auf e8 aufgefallen — wie kommt der nur dahin?

Bei der Vorstellung der Lösung nutze ich die Anmerkungen des Preisrichters Kostas Prentos, dessen Schlusskommentar ich hier schon gekürzt wiedergebe: „Ziemlich reicher Inhalt sehr kompakt dargestellt … Insgesamt ein hübsches Problem zum Lösen und sich dran erfreuen.“
„Käme sTe8 von h8, dann müssten Lf8 und Sg8 hinaus und wieder zurück gezogen haben, um den Weg frei zu machen. Das dauert fünf Züge. Schwarbz braucht weitere fünf für Ke8>a8, zwei für Ta8>c6 und drei Bauernzüge. Daher wurden Ba7 und Bd7 zuhause geschlagen. Dann bleibt aber keine Zeit für Th1xd7 und dann den Turm wegziehen, um den schwazen König heraus zu lassen Auch Sg1xd7 und Dd1xa7-e3 dauert zu lange.

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Retro der Woche 25/2023

Heute vollendet René J. Millour sein achtes Lebensjahrzehnt, und dazu gehen meine herzlichen Glückwünsche nach Frankreich!

René begeistert mich immer wieder mit großartigen Märchen-Retros, die meist im Diagramm völlig harmlos ausschauen, aber dann sehr eleganten Inhalt mit niemals erwartetem Tiefgang zeigen.

Solch ein Stück habe ich für heute ausgesucht, das ich etwas anders als üblich präsentieren werde: Ich zitiere im Wesentlichen aus dem Preisbericht von Hans Gruber, Uli Ring und mir — übrigens aus dem in der letzten Woche erwähnten Schwalbe-Heft 233.

René J. Millour
Die Schwalbe 2001, 1. Preis
Forderungen im Text, Monochromes Schach (6+8)

 

Gefragt ist nach
a) In welcher Reihenfolge wurden die Springer geschlagen?
b) Ist die schwarze O-O noch möglich?
c) Wie viele Züge hat der weiße König mindestens ausgeführt?
im monochromen Schach (Schwalbe-Lexikon: „Es sind nur Züge erlaubt und legal, deren Ausgangs- und Zielfeld von gleicher Farbe sind. Das gilt auch bei der Beurteilung von Matt und Patt.“)

Zunächst der Kommentar von uns drei Richtern, anschließend, nach dem „weiter“, die ausführliche Lösungsangabe, wie wir sie für den Preisbericht geschrieben hatten.

„Auch unter vielen komplexen Monochrom-Retros des Autors ist dieses Problem eines der Topstücke, vor allem, weil das extrem komplizierte Element `Wer zum Henker konnte Stein X schlagen?’ gleich mehrfach zelebriert wird. Die ökonomie-stiftende Wirkung der Monochrom-Bedingung wird ungeheuer gut genutzt, was sich vor allem in der atemberaubend geringen Steinzahl und im Fehlen jeglichen sichtbaren Bauernschlags im Diagramm zeigt. Die in der Konstruktion verborgenen Retro-Überlegungen sind tiefgründig und reichhaltig.“

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Retro der Woche 24/2023

Wer sich über den Stand der Retroanalyse vor etwa 25 Jahren informieren möchte, dem lege ich die Schwalbe-Hefe 232 und 233 (August bzw. Oktober 2008) ans Herz: Dort hatte das Richter-Trio Brand, Gruber und Ring als Ersatz für die ursprünglich nominierten Richter die noch fehlenden Berichte für die Urdruck-Jahrgänge 1999 – 2001 übernommen.

Auffällig ist, dass zu der Zeit „klassische Retros“ den Ton angaben, dass bei den Beweispartien eindeutig Satoshi Hashimoto dominierte. Seinen 1. Preis und die 2. ehrende Erwähnung 2000 hatte ich bereits in den Retros der Woche 03/2020 und 35/2020 vorgestellt. Heute nun sein 4. Preis aus dem 2001er Turnier — wieder die bestplatzierte Beweispartie.

Satoshi Hashimoto
Die Schwalbe 2001, 4. Preis
Beweispartie in 17,5 Zügen (14+15)

 

Das übliche Zählen der sichtbaren Züge führt hier wahrscheinlich zunächst einmal zu Frust, wir wollen es aber trotzdem einmal machen: 0+0+0+0+3+3=6 bei Weiß, 3+2+0+2+1+3=11 bei Schwarz. Ganz so dramatisch ist es vielleicht nicht, weil ja auch noch die weiße Dame und ein Turm geschlagen werden müssen. Zumindest an der Bauernstruktur sieht man aber nicht, wo sie geschlagen worden sein können — vielleicht [Th1] zuhause im Südosten?

Bei Schwarz fehlt nur ein Bauer. Der konnte sich allerdings nicht direkt auf f3, dem sichtbaren Schlagfeld, opfern; er musste also umwandeln, um sich dann selbst auf f3 a la Ceriani-Frolkin zu opfern oder den dortigen Opferstein als Phönix zu ersetzen.

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Retro der Woche 18/2023

Vor zwei Wochen hatte ich hier eine Aufgabe von Josef Haas (28.1.1922 – 11.11.2003) vorgestellt; heute soll eine weitere folgen. Ich finde seine Aufgaben deshalb sehr schön und werbewirksam, weil die Diagrammstellungen meist recht einfach erscheinen, aber die Lösungen dennoch eine Menge retroanalytischen Tiefgang besitzen.

Josef Haas
feenschach 1971, 2. Preis
Weiß nimmt einen Zug zurück, dann #2 ; b) sBc7>d5, dann #3 (11+9)

 

So ist es hier auch, wie ich finde: eine recht offene Stellung, die aber nette Schlussfolgerungen erfordert, um die Lösungen zu finden.

Überlegen wir aber zunächst, wie wir prinzipiell die Vorwärtsforderung erfüllen können. So kann Weiß in a) 1.Kxg7 und 2.Tf8# spielen — wenn Schwarz nicht mehr rochieren darf.

Die Diagrammstellung lässt sicherlich die schwarze lange Rochade zu — wir müssen also eine Rücknahme finden, nach der die Rochade nachweisbar illegal ist.

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Retro der Woche 15/2023

War bei dem Stück, das ich am Karfreitag gezeigt habe, noch einfach zu erkennen, wie die beiden Eier in die Nester gekommen waren, ist das heute deutlich komplizierter — und sehr rizvoll, wie ich finde!

Und spätestens zum Schluss werdet ihr entdecken, dass sich hier noch mehr versteckt, als es auf den ersten Blick scheint…

Roberto Osorio, Jorge Lois & Oscar Cuasnicú
Probleemblad 2004, 3. Lob
Beweispartie in 21,5 Zügen (15+15)

 

Zwei offensichtliche „Ostereier“, also Themafiguren entdecken wir schnell: wTd8 und sDd1 müssen ja irgendwie ins jeweils andere Lager gekommen sein, und da ganz offensichtliche, offen liegende Wege nicht existieren, sollten wir zunächst einmal Stellungsmerkmale zu identifizieren.

Offenbar fehlt auf beiden Seiten jeweils ein Offizier, also kennen wir die beiden Schlagfälle bereits: bxTa3 und bxLc6. Und damit tun sich auch bereits mögliche Wege für die beiden Ostereier auf: Irgendwie muss wohl die b-Linie die Schneise für beide bilden?!

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Retro der Woche 13/2023

Vor gut zwei Wochen hatte ich auf das Vlaicu Crişan 50 Turnier hingewiesen; dort werden in der 2. Abteilung Verteidigungsrückzüger verlangt, bei denen die Vorwärtsverteidigung eine zentrale Idee bildt. Heute möchte ich euch eine Aufgabe zeigen, in der die Vorwärtsverteidigung nicht im Mittelpunkt steht, sondern subtil mit für Korrektheit sorgt. Die Aufgabe zeigt noch einige weitere Feinheiten, die zur Eindeutigkeit der Lösung beitragen.

Wolfgang Dittmann
The Problemist 1981 (V)
#1 vor 6 Zügen, VRZ Proca (12+10)

 

Wir erinnern uns: Beim Typ Proca des Verteidigungsrückzügers bestimmt die gerade zurücknehmende Partei, ob ihr Zug ein Schlagzug war und welcher Stein geschlagen wurde — hierbei muss natürlich stets die Legalität der Stellung gewahrt bleiben.

Ich orientiere mich bei meinen Angaben eng an denen des Autors selbst in seinem „Der Blick zurück“; dort wird diese Aufgabe als Nr. 129 präsentiert.

Eigentlich muss Weiß ja nur den Schwarzen zur Rücknahme von Kd8-c8 (oder Kd8xSc8 — warum kein anderer weißer Stein?) zwingen, und schon kann er mattsetzen. Aber wie kann das gelingen?

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Retro der Woche 04/2023

Warum ich für heute eine Aufgabe aus ziemlich alten Zeiten herausgesucht habe, hat erst einmal persönliche, private Gründe: Meine Mutter feiert heute bei recht guter Gesundheit und toller geistiger Fitness Geburtstag — welchen, das herauszufinden überlasse ich eurer Spitzfindigkeit.

Gleichzeitig widerlegt die Aufgabe meiner Meinung nach das Vorurteil, Høeg-Verteidigungsrückzüger seien nur für kurzzügige Aufgaben geeignet, längerzügige, strategische ließen sich nur mit dem Proca-Typ darstellen.

Lajos von Szasz
Die Schwalbe 1929
#1 vor 13 Zügen, Verteidigungsrückzüger Typ Høeg (12+12)

 

Betrachten wir zunächst die Schlagbilanz, um zu sehen, unter welchen Umständen die Parteien Schlagopfer einsetzen können: Die fehlenden weißen Steine (DTSS) sind offenbar vom [Bc7] auf seinem Weg nach g3 geschlagen worden, nach anderen schwarzen Rücknahmen kann Weiß also keinen Schlag reklamieren.

Bei Schwarz fehlen die beiden Läufer, die jeweils zuhause geschlagen worden sind, dann der [Ba7], der irgendwo auf der a-Linie geschlagen wurde, sowie einer der Springer, der durch hxg verschwunden sein muss — also auch Schwarz kann erst einmal keine Entschläge reklamieren.

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