Retro der Woche 13/2023

Vor gut zwei Wochen hatte ich auf das Vlaicu Crişan 50 Turnier hingewiesen; dort werden in der 2. Abteilung Verteidigungsrückzüger verlangt, bei denen die Vorwärtsverteidigung eine zentrale Idee bildt. Heute möchte ich euch eine Aufgabe zeigen, in der die Vorwärtsverteidigung nicht im Mittelpunkt steht, sondern subtil mit für Korrektheit sorgt. Die Aufgabe zeigt noch einige weitere Feinheiten, die zur Eindeutigkeit der Lösung beitragen.

Wolfgang Dittmann
The Problemist 1981 (V)
#1 vor 6 Zügen, VRZ Proca (12+10)

 

Wir erinnern uns: Beim Typ Proca des Verteidigungsrückzügers bestimmt die gerade zurücknehmende Partei, ob ihr Zug ein Schlagzug war und welcher Stein geschlagen wurde — hierbei muss natürlich stets die Legalität der Stellung gewahrt bleiben.

Ich orientiere mich bei meinen Angaben eng an denen des Autors selbst in seinem „Der Blick zurück“; dort wird diese Aufgabe als Nr. 129 präsentiert.

Eigentlich muss Weiß ja nur den Schwarzen zur Rücknahme von Kd8-c8 (oder Kd8xSc8 — warum kein anderer weißer Stein?) zwingen, und schon kann er mattsetzen. Aber wie kann das gelingen?

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Retro der Woche 12/2023

Vor ein paar Tagen hat mich eine Mail, die ich bekommen habe, an einen alten Aufsatz von mir erinnert, den ich im Jahr 1996 in feenschach veröffentlicht hatte. Eine der Aufgaben daraus, aus dem „frühen Mittelalter der Beweispartien“ von vor 32 Jahren, möchte ich euch heute zeigen.

Michel Caillaud
Phénix 1991, 5. ehrende Erwähnung
Beweispartie in 17,5 Zügen (14+13)

 

Schon auf den ersten Blick erkennt man, dass uns das Zählen der im Diagramm sichtbaren Züge kaum weiter bringt. Selbst die sichtbaren Doppelbauern scheinen nicht viel hilfreiche Information abzugeben — auch, weil nur jeweils ein Schlag sichtbar ist, die anderen verborgen sind.

Aber bei etwas genauerem Hinschauen fällt dann doch etwas auf:

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Retro der Woche 11/2023

Den Grund, weshalb ich heute genau diese Aufgabe als „Retro der Woche“ ausgesucht habe, werde ich euch am Ende des Beitrags verraten; nun aber gleich medias in res:

Mario Parrinello
Probleemblad 2005
Beweispartie in 19,5 Zügen (13+13)

 

Vielleicht möchtet ihr ja raten, was das Themafeld dieser Aufgabe ist, bevor wir mit der Analyse beginnen?

Wieder einmal haben wir eine Beweispartie vor uns, bei der das Zählen der sichtbaren Züge einer Partie schnell erledigt ist: fünf bei Weiß ist genau ein Viertel aller Züge — und wir wissen ja aus langer Erfahrung, dass dies ein Indiz für Umwandlungen oder Rundläufe dieser Partei sein kann.

Bei Schwarz ist das Zählen der sichtbaren Züge schon ergiebiger: 1+0+4+0+5+5=15 — damit sind auch noch vier schwarze Züge frei.

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Retro der Woche 10/2023

Die gerade erschienene März-Ausgabe des Problemist enthält einen ausführlichen Artikel zum Schweizer Markus Ott (30.01.1960–01.10.2021): Er war ein hervorragender Komponist, der besonders für seine Hilfsmatts und Märchenaufgaben bekannt ist.

In seinen „jungen Jahren“ hat er allerdings auch einige interessante Retros gebaut; ein klassisches Stück aus dieser Zeit möchte ich euch heute zeigen.

Markus Ott
feenschach 1982, 3. Lob
Erster Zug des weißen Turms? (5+11)

 

Anfang der 1980er Jahre wurden in feenschach möglichst ökonomische klassische Auflöse-Aufgaben untersucht, in denen nicht nach dem letzten, sondern nach dem ersten Zug eines Steins gesucht wurde. Eine Vielzahl interessanter Stücke ist dabei entstanden.

wKb8 konnte offenbar nur via g6, f7, e8 auf die achte Reihe gelangen, daher kann Schwarz die offensichtlichen möglichen Züge h7-h6 oder f7xXe6 noch nicht zurücknehmen. Die Rücknahme eines Königszuges würde in ein illegales Retroschach führen, sodass Schwarz nicht als letzter gezogen haben kann; also müssen wir mit der Rücknahme eines weißen Zuges beginnen.

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Retro der Woche 09/2023

Die Karnevalszeit ist vorbei, die Schachfiguren haben den Alkohol auch wieder ausgedünstet (Retro der Woche 08/2023) — verblüffen uns aber vielleicht auch heute mit ihren Spaziergängen übers Brett. Und das sind sehr gut überlegte und nüchterne Wege, die sie Michel in der heutigen Aufgabe gehen lässt.

Michel Caillaud
10. WCCT 2016-2017, 3.-5. Platz
Beweispartie in 19,5 Zügen (13+13)

 

Das Zählen im Diagramm sichtbarer Züge ist bei Weiß sehr schnell erledigt, und auch das Ergebnis des Zählens bei Schwarz ist ernüchternd: 4+0+3+1+2+3=13: Deutlich mehr als bei Weiß, aber immer noch sind sechs Züge frei. aber zum Glück fehlen ja ein paar Steine, und mit deren Hilfe lassen sich vielleicht noch ein paar Schlussfolgerungen ziehen?!

Bei Schwarz fehlen neben einem Bauern vom Königsflügel noch [Dd8] und [Lf8]. Um nun die beiden weißen Doppelbauern (kommt Bg3 wohl von f2 oder von h2?) zu erzeugen, müssen sich entweder die beiden fehlenden Offiziere dort geopfert haben — dann sind nur noch zwei Züge frei — oder ein Offizier auf c3 und [Bg7] auf g3, dann bleibt nur noch ein weißer Zug frei.

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Retro der Woche 08/2023

Ach wie gut, dass Schach, dass besonders Problemschach so seriös ist! Ach wie gut, dass auf dem Schachbrett keine vom Alkohol geförderten Feierexzesse, wie wir sie gerade in den Karnevalshochburgen nicht nur am Rhein erleben, denkbar sind!

Wirklich nicht? Spätestes 1987 hat auch das Problemschach seine alkoholische Unschuld verloren, als John Beasley entdeckte, dass auch Schachfiguren Alkoholprobleme haben könnten — Beasley nannte sie deswegen „fuddled men“ — beschwipste Steine: Sie sind dann nach einem eigenen Zug so angeschlagen, dass sie erst einmal einen Zug „Auszeit“ nehmen müssen — wahrscheinlich sich an einem Laternenpfahl festhaltend. In dieser Zeit können sie auch den gegnerischen König nicht bedrohen.

Irgendwann entdeckte Bernd Gräfrath, dass man die beschwipsten Steine überreden konnte, bei Beweispartien mitzuwirken — die Folge davon war ein Artikel hier im Blog, der mit der Ausschreibung des 5. Retroblog-Thematurniers verbunden war.

Und aus diesem Thematurnier, dessen Preisbericht am 10.4.2020, nicht einmal zwei Wochen nach dem Einsendeschluss, erschien, möchte ich am Karnevalssonntag das Preisproblem zitieren.

Michel Caillaud
5. Retroblog-Thematurnier 2020, Preis
Beweispartie in 23,5 Zügen, Fuddled men (15+15)

 

Der fehlende weiße Stein ist offenbar Bg2, er wurde auf c6 geschlagen. Offenbar nicht direkt, [Bg2] muss also umgewandelt haben, um sich selbst schlagen zu lassen oder das weiße Schlagopfer zu ersetzen.

„Klar, sieht man doch: 24.gxh8=T+!“ sagt uns das orthodoxe Auge, um beim zweiten Blick festzustellen, dass das illegal wäre — und das sogar aus mehreren Gründen: Bei Schwarz fehlt nur Lc8 — der aber kann nicht auf dem schwarzen Feld h8 geschlagen worden sein. Und selbst wenn: Wie käme denn [Bg2] bis nach g7 — an sBg6 vorbei? Dafür fehlen Schlagobjekte.

Also müssen wir irgendwie das Ausruhen am Laternenmast ausnutzen …

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Retro der Woche 07/2023

12.2.23 Diagramm korrigiert — Dank an Arnold Beine!

Vor zwei Wochen habe ich hier das bemerkenswerte Illegal Cluster von Dmitrij Baibikov vorgestellt, das „natürlich“ de ersten Preis der orthodoxen Retros im Jahresturnier 2022 von StrateGems erhielt. Heute möchte ich euch den zweiten Preisträger zeigen, ein klassisches Retro, in dem es um die gar nicht so einfach zu beantwortende Frage geht: „Wie kann nur der Knoten im Nordwesten aufgelöst werden?“

Andrej Frolkin
StrateGems 2022, 2. Preis (klassische Retros)
Löse auf! (9+13)

 

Bei Schwarz fehlen die Dame, der schwarzfeldrige Läufer und ein Springer. Sichtbar sind nur zwei Schläge: dxc3 und Le6xXd7+ im letzte Zug — gleichzeitig impliziert dieses Schachgebot, dass Weiß mit der Rücknahme beginnt. Der dritte Schlag ist noch nicht erkennbar.

Bei Weiß fehlen sieben Steine; sechs schwarze Schläge mit Bauern sind sichtbar: Die schwarzen Bauern auf den Linien b bis d kommen von a bis c (drei Schläge), drei weitere erfolgten durch die Bauern auf der f-Linie: dxe6xf5 und gxf6. Damit ist noch ein Schlag frei, mit dem [Ba2] oder [Bh2] verschwinden mussten; der andere Bauer musste sich also umwandeln, um verschwinden (oder einen zusätzlich geschlagenen weißen Offizier im Diagramm ersetzen zu können.

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Retro der Woche 06/2023

Beim letzten WCCT hatte Silvio Baier ja in der Retro-Abteilung mit seinen drei Aufgaben auf den Plätzen 1, 3-4 und 6-8 (als Streichresultat, als „schwächste“ deutsche Aufgabe nicht in der Wertung) allein für den deutschen Sieg in dieser Rubrik gesorgt — und er hat hat auch anschließend gezeigt, dass er das schwierige Thema exzellent zu behandeln weiß.

Das hat sich dann auch im Preisbericht für die orthodoxen Beweispartien im letzt(jährig)en Informalturnier von StrateGems (deren Website scheint wieder aktiv zu sein!) niedergeschlagen; auch hier gewann Silvio mit einer Aufgabe zum „WCCT-11-Thema“ den ersten Preis.

Dieses Stück wollen wir uns nun gemeinsam anschauen.

Silvio Baier
StrateGems 2022, 1. Preis
Beweispartie in 26 Zügen (14+13)

 

Schnell sehen wir, dass uns das Zählen der sichtbaren Züge weder bei Weiß noch bei Schwarz weiter bringt. Also schauen wir nach sichtbaren Schlägen und versuchen, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.

Die beiden fehlenden weißen Steine wurden durch axXb6 und dxYc geschlagen. Auch bei Weiß sehen wir zwei Schläge im Diagramm — zumindest die betroffenen Reihen: bxXc und hxYg3. Damit sind bis auf einen schwarzen Stein alle fehlenden erklärt.

Es fehlen auf beiden Seiten ausschließlich Bauern, und weder konnten sich die fehlenden weißen Bauern auf b und c opfern noch die schwarzen auf c und g.

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