Retro der Woche 46/2022

Vor vier Wochen habe ich hier das Sahnestück der Retro-Abteilung im 11. WCCT vorgestellt, das Siegerstück von Silvio Baier. Dort hatte ich auch das von der Ukraine vorgeschlagene Thema erläutert — vielleicht schlagt ihr dort noch einmal nach?

Heute will ich auf die zweitplatzierte Aufgabe eingehen; auch da bin mir sicher, dass sie euch gefallen wird.

Dirk Borst
11. WCCT, Abteilung H, 2. Platz
Beweispartie in 29,5 Zügen (14+14)

 

Betrachten wir zunächst die möglichen Schlagfälle. Sofort entdeckt man die beiden weißen Schläge: einmal mit dem [Bd2], einmal mit dem [Bf2] jeweils auf die e-Linie. Dabei können sie die fehlenden Steine [Bc7] und [Bg7] nicht beide direkt geschlagen haben: Einer wäre möglich, der dann zweimal zur Mitte hin hätte schlagen müssen.

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Retro der Woche 45/2022

Heute möchte ich noch einmal auf den Aufsatz bzw. das Schema eingehen, mit dem wir uns in der letzten Woche hier beschäftigt hatten. Dieses Mal möchte ich euch das zuerst publizierte Stück dieser Reihe vorstellen — erster Preisträger im Schwalbe-Informalturnier, und kurioser Weise bildet dieses Stück sofort eine Erweiterung des in der letzten Woche diskutierten Käfigs wKc1, wDb1, sKa3, sTd2.

Andrej Frolkin & Anatoli Wassilenko
Die Schwalbe 1998, 1. Preis
Löse auf (13+14)

 

Die Erweiterung des Grund-Käfigs besteht in der Verschiebung des schwarzen Turm ein Feld Richtung Königsflügel. Damit wird der Käfig größer, und durch den damit möglichen zusätzlichen Turm wird die Auflösung noch komplexer.

Aber zunächst wollen wir uns die Schlagbilanz anschauen: Die beiden weißen Schläge sind klar: Bei Schwarz fehlen genau die beiden Springer und die wurden mit b2xSc3 und a5xSb6 geschlagen. Nur ein schwarzer Bauernschlag ist sichtbar: axb.

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Retro der Woche 42/2022

Und schon wieder eine Beweispartie — das ist heute wie schon in der letzten Woche der Aktualität geschuldet, aber gleichzeitig, das kann ich schon versprechen, gibt es heute auch ein „Sahnestück“ zu genießen!

Beim 11. WCCT war in der Retro-Abteilung folgendes, von der Ukraine vorgeschlagene, Thema vorgegeben (Ich gebe es in Kurzfassung, die englische Originaldefinition findet sich etwa im WCCT-Booklet.): Auf Partieanfangsfeld A des Steines X, der (oder sein Zwillingsbruder) geschlagen wird, erscheint ein in X umgewandelter Bauer derselben Farbe (Pronkin-Effekt), das er wieder verlassen darf. Auf A entsteht auch ein Ceriani-Frolkin-Stein (natürlich der anderen Farbe).

Silvio Baier
11. WCCT, Abteilung H, 1. Platz
Beweispartie in 30 Zügen (13+13)

 

Das Zählen der sichtbaren Züge (1+0+2+2+1+4=10 bei Weiß, 2+1+0+1+2+6=12 bei Schwarz, wo wir Rochade eingerechnet haben und daher zwei S-Züge brauchen) bringt uns erschreckend wenig weiter. Aber vielleicht hilft uns das Betrachten der sichtbaren Schlagfälle?

Bei Weiß fehlen drei Bauern: [Ba2] sowie zwei vom Königsflügel; die können alle nicht direkt geschlagen worden, müssen also per Umwandlung verschwunden sein. Damit haben wir schon 25 weiße Züge — und damit noch fünf, um die Umwandlungssteine oder ihre Original-Pendants loszuwerden.

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Retro der Woche 39/2022

Wie in der letzten Woche möchte ich erneut eine Märchen-Beweispartie vorstellen; die heutige ist aber deutlich „orthodoxer“: Manche Märchenbedingungen ermöglichen nicht „neue“, orthodox nicht mögliche Züge, sondern schränken die orthodoxen Zugmengen ein, bilden also gleichzeitig eine Partie nach den orthodoxen Regeln. Dazu gehören neben Duellantenschach auch Längst- und Kürzestzüger. Beim heutigen Doppelküzestzüger müssen beide Parteien den kürzesten legal möglichen Zug machen; bei mehreren solcher Züge besteht freie Auswahl.

Michel Caillaud
Problem Paradise 2015-2016, 2. Preis
Beweispartie in 40,5 Zügen Doppelkürzestzüger (12+14)

 

Wie bei der Bedingung zu erwarten geht es in der heutigen Beweispartei deutlich ruhiger und bedächtiger zu als in der letzten Woche.

Beim Blick auf das Diagramm kann man direkt keinen Bauernschlag ausmachen: Kein einziger Doppelbauer ist vorhanden. Gibt es aber sonst Auffälligkeiten an der Stellung?

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Retro der Woche 36/2022

In meinem Bericht letzte Woche vom Ergebnis der Retro-Kompositions-Weltmeisterschaft WCCI hatte ich bereits angekündigt, darauf noch intensiv zurück zu kommen; das will ich nun tun.

Natürlich beginne ich mit einer Aufgabe des alten und neuen Weltmeisters — das ist übrigens das im Wettbewerb mit Abstand am höchsten bewertete Stück, das in höherem Sinne Silvio Baier die Titelverteidigung sicherte.

Silvio Baier
Die Schwalbe 2020, 2. Preis
Beweispartie in 26 Zügen (12+14)

 

Auffällig an der Diagrammposition ist natürlich die weiße Homebase, die das übliche Züge-Zählen für Weiß sofort ad absurdum führen würde. Und der zweite Blick lässt uns als potenzielle Löser vielleicht gar verzweifeln: Nicht ein einziger Schlag ist sichtbar, da bei Schwarz kein Doppelbauer zu sehen ist.

Aber vielleicht hilft hier das Zählen der sichtbaren schwarzen Züge? Gehen wir zunächst einmal davon aus, dass wir keine schwarzen Bauernschläge einrechnen; das hat dann speziell Auswirkungen auf die Turmwege.

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Retro der Woche 35/2022

Vor anderthalb Wochen hatte ich auf die Neuauflage der „Letzte Züge“ Broschüre von Dmitrij Baibikov, Alain Brobecker und Thierry Le Gleuher hingewiesen und einen dieser Rekorde als „zwischendurch“ Aufgabe vorgestellt. Heute möchte ich auf einen anderen dort zitierten Rekord eingehen.

Dmitrij Baibikov
Phénix 2018
Letzte 59 Einzelzüge? (12+11)

 

Die fehlenden vier weißen Steine wurden mittels c7xXd6xYe5 sowie bxcxd geschlagen, darunter auch die ursprünglichen weißen Bauern f2, g2 und h2 — die sich also allesamt umgewandelt haben müssen. Zwei weiße Bauernschläge sieht man im Diagramm, nämlich axZb3 und dxc. Damit bleiben drei Schläge für die umgewandelten weißen Bauern auf ihrem Weg zur achten Reihe frei.

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Retro der Woche 33/2020

Immer wieder sorgt der berühmt-berüchtigte „Kölner Keller“ bei Fußballfans für Aufregung, für immer wieder neuen, nie versiegenden Diskussionsstoff, wenn der „Videoschiedsrichter“ aus dem Keller den auf dem Platz an den Fernseher bittet, um sich noch einmal eine wichtige Szene anzuschauen und dann gegebenenfalls seine bisherige Entscheidung zu revidieren.

Den Videoschiedsrichter brauchen wir bei Preisberichten natürlich nicht, aber auch da gibt es gelegentlich Diskussionen — z.B. „Auszeichnung trotz Vorläufers“? Diese Situation gab es auch beim Retropreisbericht 2020 der Schwalbe aus dem Aprilheft 2022. Dort hatte der Preisrichter eine Aufgabe nicht berücksichtigt, weil sie zu nahe am eigenen Vorläufer sei — diesen Vorläufer hatte ich im Retro der Woche 11/2015 vorgestellt (und den solltet ihr euch dringend jetzt noch einmal anschauen!).

Nun kam Richter Paul Rãican nach der Diskussion mit einigen Retrofreunden, speziell mit Werner Keym zu einem anderen Ergebnis als vorher; im Augustheft vergab er nachträglich einen Spezialpreis für unser heutiges Retro der Woche.

Harry Goldsteen
Die Schwalbe 2020, Spezialpreis
Löse auf! (6+13)

 

Die Matrix hat natürlich große Ähnlichkeit mit Harrys Stück aus dem Jahr 1989 — auch das ist ja ein „nach…“ Problem von Andrej Frolkin; das findet sich in der PDB als P0000096; die Geschichte dieser drei Aufgaben kann auch nachgelesen werden in meinem Artikel „Entschlag auf der Fesselungslinie“, Die Schwalbe Juni 2020, S. 561-563.

Bei Schwarz fehlen die drei Schwerfiguren, deshalb kann Weiß auch noch nicht g5xD/Tf6 zurücknehmen: dem wäre ein illegales Schachgebot gegen den weißen König vorausgegangen. Und nach dem offensichtlichen 1.– Sh7-f8+ steht Schwarz direkt vor dem Retropatt, könnte sofort keinen weiteren Zug zurücknehmen.

Wie kann nun Weiß die Stellung legal halten?

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Retro der Woche 26/2022

Sicherlich muss man Nikita Plaksin zu den bedeutendsten Retrokomponisten der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts rechnen: Auf dem Gebiet der klassischen Retroanalyse hat er viel in hoher Qualität komponiert, aber auch — ungewöhnlich für einen sowjetischen Koponisten, hat er sich auch intensiv mit Märchenschach, speziell mit Märchenretros (typischerweise systematische Untersuchungen zu Lastmovern bei speziellen Bedingungen) beschäftigt.

Heute allerdings möchte ich euch ein klassisches Stück von ihm vorstellen.

Nikita Plaksin
Schachmatni Westnik 1993, Dr. L. Ceriani zum Gedenken, 1.-2. Preis
Geschichte des sBg2? (10+13)

 

Alle fehlenden weißen Steine wurden von den schwarzen Bauern geschlagen: sBf5 und sBg5 haben zusammen zweimal geschlagen, und unser „Thema-Bauer“ auf g2 kommt offenbar von c7.

Dabei müssen neben fehlenden weißen Turm und weißer Dame auch die vier fehlenden Bauern geschlagen worden sein — dafür müssen aber alle vier umgewandelt haben. Und von den weißen Bauernschlägen sieht man direkt nur f6xe7, aber auch [Ba2] und [Bb2] müssen je einmal geschlagen haben, um umwandeln zu können; [Bc2] und [Bh2] müssen also schlagfrei auf ihrer Linie umgewandelt haben. Damit haben wir die Umwandlungsfelder b8 für [Ba2], c8 für [Bb2] und [Bc2] sowie h8 für [Bh2].

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