Retro der Woche 01/2023

Nach zwei orthodoxen Retros aus dem FIDE-Album 2016 — 2018 möchte ich das neue Jahr mit einem weiteren Beispiel daraus „märchenhaft“ beginnen. Ihr ahnt sicher, dass auch in diesem Album die Anticirce-Verteidigungsrückzüger den Märchenteil dominieren; ich möchte aber heute ein anderes Stück vorführen, eine Beweispartie mit der Bedingung „Madrasi“. 1979 erfunden, wurde sie schon als populärer Nachfolger der Circe-Familie angesehen, doch in den letzten Jahren ist es erstaunlich ruhig um Madrasi geworden. Dabei ist die Regel eigentlich ganz einfach:

“Ein Stein, welcher von einem gegnerischen Stein gleicher Gangart beobachtet wird, ist gelähmt. Wird der beobachtende Stein geschlagen oder die Beobachtungslinie unterbrochen, ist die Lähmung aufgehoben. Ein paralysierter Stein kann also nicht Schach bieten. Zwei Regeln muss man zudem wissen:
– ein doppelschrittig ziehender Bauer ist e.p.-schlagbar,
– eine Rochade (= Königszug) mit einem gelähmten Turm ist möglich.”
(zitiert aus kunstschach in begriffen)

Michel Caillaud
Die Schwalbe 2018, 4. Preis
Beweispartie in 29,5 Zügen, Madrasi (16+11)

 

Schauen wir uns die Stellung zunächst „mit orthodoxer Brille“ an: Bei Schwarz fehlen die fünf Bauern [Bd7] bis [Bh7], bei Weiß sehen wir fünf Bauernschläge: [Bc2] bis [Bg2] stehen auf dem Brett jeweils ein Feld weiter östlich. Das schließt nicht aus, dass z.B. [Bf2] nicht geschlagen hat, dafür [Be2] zweimal, die eigentliche Bilanz ändert das nicht.

Bei Schwarz die sichtbaren Züge zu zählen (1+0+0+1+1+0=3 mit vorausgesetzter Rochade) ist nicht der Mühe wert; bei Weiß ist das schon spannender: 2+1+4+4+6+13=30 — alle weißen Züge werden gebraucht, und die Züge von König, Dame und den Bauern (theoretisch bis auf wBh6) sind determiniert.

Was bringt nun Madrasi an Besonderheiten für die Lösung? Wenn Bauern sich beobachten (z.B. wBc4, sBd5), sind beide zugunfähig, können sich vor allen Dingen nicht schlagen. Einmal kann man den erwähnten e.-p.-Trick anwenden (h7-h5, g5:h6 e.p.), aber wie verschwinden die anderen vier schwarzen Bauern?

Die müssen sich umwandeln, um sich dann als Ceriani-Frolkin-Steine schlagen zu lassen. Und das relativiert auch die Zahl freier schwarzer Züge: Wir benötigen ja mindestens 21 schwarze Bauernzüge (viermal zur Umwandlung plus h7-h5), sodass neben den drei sichtbaren Zügen nur noch fünf übrig bleiben, um die Umwandlungssteine auf der fünften Reihe loszuwerden. Da reichen eigentlich vier — und wie der fünfte Zug dann „verschwendet“ wird, finde ich sehr attraktiv.

Wollt ihr es versuchen? Viel Freude wünsche ich euch dabei!

Lösung


Dass Schwarz bereits im ersten Zug sein Tempo „verschenkt“, hat mich, als Michel die Aufgabe mir für Die Schwalbe geschickt hatte, ziemlich überrascht.

Preisrichter Hans Gruber schrieb zu dem Stück: „Dieses Ziel (der schwarzen Bauern — TB) ist die Umwandlung, um sich anschließend als Ceriani-Frolkin-Figur opfern zu können. Dass es vier Türme werden, ist hervorragend inszeniert in einer großen Madrasi-Schwelgerei, denn nur einmal dient der weiße König in altbekannter Weise zur Umwandlungsbegründung, dreimal ist es genrespezifisch die weiße Dame.“

2 thoughts on “Retro der Woche 01/2023

  1. [quote]
    denn nur einmal dient der weiße König in altbekannter Weise zur Umwandlungsbegründung, dreimal ist es genrespezifisch die weiße Dame.
    [/quote]
    The promotion on e1 is a rook for both reasons (queen and king).
    I remember solving this. It wasn’t very hard, but I like the ‘flow’ of the solution.

Schreibe einen Kommentar zu Henrik Juel Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.