Retro der Woche 12/2020

Heute möchte ich noch einmal auf das Retro der Woche 10/2020 zurückkommen: Heute beschäftigen wir uns mit einem „Geschwister“ der Aufgabe von vor zwei Wochen.

Sergej Wolobujew & Nikita Plaksin
feenschach 1984v, Peter Kniest zum 70. Geburtstag
Orang-Utan-Eröffnung? (13+13)

 

Schon die Fragestellung in der Aufgabe ist ungewöhnlich: Dazu erinnern wir uns daran, dass Savielly Tartakower (21.2.1887–5.2.1956) die Eröffnung 1.b4 nach einem Zoo-Besuch spaßeshalber als „Orang-Utan-Eröffnung“ bezeichnet hatte, und dieser Name hat sich (neben „Sokolski-Eröffnung“) in der Schachwelt durchgesetzt. Die Frage in der Aufgabenstellung können wir also übersetzen in „Lässt sich die Stellung auflösen, ohne dass ein Zug des wBb4 zurückgenommen muss, bis die weitere Auflösung klar ist?“ – also bis zur so genannten retrograden Ruhestellung, wenn also die Lösungsangabe üblicherweise mit „etc.“ endet.

Betrachten wir zunächst einmal die Schlagbilanz: alle drei fehlenden schwarzen Steine wurden von Bauern geschlagen: cxdxe sowie g2xf3. Bei Schwarz sehen wir zunächst nur einen Schlagfall: fxe.

Wenn wir uns allerdings anschauen, welche Steine auf beiden Seiten fehlen, so sind das bei Weiß die Läufer und die Dame. Bei Schwarz hingegen fehlen neben [Lc8] noch [Ba7] und [Bh7]. Beide konnten nicht direkt geschlagen werden, sondern mussten sich umwandeln. Da die weißen [Ba2] und [Bh2], die beide nicht geschlagen haben können, noch auf dem Brett stehen, müssen also [Ba7] und [Bh7] je einmal geschlagen haben, um sich dann auf b1 bzw. g1 umzuwandeln. Damit sind auch alle Schläge des Schwarzen geklärt.

So etwas hatten wir vor zwei Wochen auch schon mit vertauschten Farben gesehen, und auch ansonsten gibt es deutliche Ähnlichkeiten mit dieser Aufgabe: Vergleicht nur einmal die Stellung des weißen Königs und des thematischen schwarzen Läufers vor zwei Wochen mit sKf4 und wLg1 in der heutigen Aufgabe.

Allein das sollte euch schon Lust machen, euch selbstständig an die Auflösung der „Orang-Utan-Aufgabe“ zu wagen: Versucht dabei also, ohne eine Rücknahme des wBb4 auszukommen. Und achtet dann, ob nun selbst gelöst oder nachgespielt, auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Vergleichsstück vor zwei Wochen! Jedenfalls gebe ich heute die Lösung völlig unkommentiert an.

Lösung

R: 1.Sf5-e3+ Sh3-g5 2.c2xDd3 Df1-d3 3.a3-a4 Dg2-f1 4.a2-a3 Dg3-g2 5.Lh2-g1 Sg1-h3 6.h3-h4 Se2-g1 7.Lg1-h2 Sc3-e2 8.Lh2-g1 Sb1-c3 9.Lg1-h2 b2-b1=S 10. Lh2-g1 a3xTb2 11.Tb1-b2 a4-a3 12.Th1-b1 Dg2-g3 13.Lg1-h2+ Dg4-g2 14.Th2-h1 Dg3-g4 15.Tg2-h2 Dh2-g3 16.Tg5-g2 Dg3-h2 17.Lh2-g1 Dg1-g3 18.Tg3-g5+ g2-g1=D 19.Lg1-h2 a5-a4 20.Tg5-g3 g3-g2 21.g2xLf3 usw.

Die Stellung konnte also mit Wahl der Orang-Utan-Eröffnung erspielt werden!

Das ist die einzige Aufgabe von Sergej Wolobujew, die von ihm in feenschach erschienen ist, nämlich in dem berühmten Sonderheft zu Peter Kniests 70. Geburtstag am 15.12.1984: Hier hatte der Russe Nikita Plaksin (*9.7.1931) eine Serie von Widmungsaufgaben veröffentlicht, die vorliegende in Koproduktion mit Sergej Wolobujew. Wer dieses Sonderheft besitzt, sollte es man wieder hervorholen: Es lohnt immer wieder, darin zu schmökern! Für mich jedenfalls noch immer das vielleicht schönste Heft der Problemschachliteratur!

5 thoughts on “Retro der Woche 12/2020

  1. Ist die knappe Frage “Orang-Utan-Eröffnung?” tatsächlich in dieser Form allgemein als eindeutig akzeptiert? Hier wird sie interpretiert als “Ist die O.U.E. MÖGLICH?” Man könnte aber auch fragen “WAR ES die O.U.E.?”, also “Ist die O.U.E. NOTWENDIG?”

    • It is impossible to answer the question ‘Did the game start with 1.b4 ?’, so it seems reasonable to interpret the stipulation as ‘Could the game have started with 1.b4 ?’

      • The question “Did the game start [in any case] with 1.b4?” can easily be answered by “No”.
        One possible denotational semantics of the two variants of the meaning of “O.U.E.?” is as follows:

        1) Calculate PG as the finite and non empty set of all proof games.
        2) Then in tholds:
        SEM_POSS= “At least one in PG starts with 1.b4″
        SEM_NECC=”All in PG start with 1.b4”
        Obviously both variants have the same general calculability.
        Even more, they fall into the same abstract complexity class, due to the finiteness of PG.

        Since every proof game starting with 1.b4 can be prefixed by something like “1.Sc3 Sc6 2.Sb1 Sb8”, the answer to SEM_NECC is trivially “NO”.
        To get a non-trivial question, we have to replace PG by PG’, with PG’ containing all from PG which do not return to the initial position.
        After this, both variants seem perfectly symmetrical to me (in the general case, not regarding this concrete example)

        Of course they may have very different concrete calculational COSTS. But this is only a pragmatic or heuristic criterion
        (“it seems reasonable” says HJ), which should NEVER be included in the definition of semantics. Otherwise you risk incidents like the Ariane-crash.

      • Yes, this is exactly the very same reason for the problem chess castling rule: In orthodox chess problems you can’t prove that castling is still allowed, since a game might have started with 1.Sh3 2.Tg1 3.Th2 4.Sg1, similar for all other three corners. (In over-the-board games you have the game score to proof that castling is still allowed or not.) So, formally speaking, castling is allowed in problem chess, if and only if there exists a proof game with the castling right retained. So here: The answer is “yes” iff (= if and only if) there exists a proof game starting with 1.b2-b4.

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