Retro der Woche 29/2015

Beweispartien mit „Homebase“ Diagrammstellungen, wo also zumindest eine Seite all ihre Steine in der Partieanfangsstellung stehen hat, wirken auf mich immer besonders attraktiv, denn eigentlich müsste diese Partei ja gar nicht ziehen!

Aber davor kann sie sich ja nicht drücken — und häufig ist es auch erforderlich zu ziehen, nämlich um etwa einige eigene Steine aktiv loswerden zu können. So auch bei dem Stück, das ich heute ausgewählt habe.

Michael Barth
Die Schwalbe 2012, 3. ehrende Erwähnung
Beweispartie in 19 Zügen (12+15)

 

Bei Weiß fehlen vier Bauer, alle anderen weißen Steine stehen auf passenden Feldern der Partieausgangsstellung — das muss ich so vorsichtig formulieren, denn theoretisch könnten ja auch die Springer oder gar die Türme ihre Plätze getauscht haben.

Bei Schwarz fehlt nur ein Bauer, und es sind keine Doppelbauern vorhanden, die etwas über das Verschwinden der fehlenden weißen Bauern verraten könnten.

Zählen wir nun die schwarzen Züge, die im Diagramm sichtbar sind: 1+1+4+4+3+5=18 — ein schwarzer Zug ist also noch übrig. Daraus schließen wir sofort, dass der fehlende schwarze Bauer nicht hat umwandeln können; dafür stehen ihm einfach zu wenige Züge zur Verfügung.

Besonders „verdächtig“ als möglicher Schuldiger für den zusätzlichen schwarzen Zug erscheint bei genauem Betrachten der Stellung sTa6: Wir haben für ihn zwei Züge angesetzt — kann das klappen? Zunächst sehen wir sofort, dass sTc7 von a8 kommen muss: Anderenfalls benötigten beide schwarzen Türme jeweils mindestens drei Züge — und die stehen nicht zur Verfügung.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten, [Th8] unter Ausnutzung des einen noch freien schwarzen Zuges nach a6 zu bekommen, und für beide Möglichkeiten muss der Schlag Bh7xXg6 erfolgen: Anders kann es gar nicht funktionieren.

Die eine Möglichkeit ist z.B. anschließendes Th8-h3-a3-a6 — damit wäre der freie schwarze Zug verspielt. Doch wie sollen dann die beiden weißen fehlenden Bauern des Königsflügels verschwunden sein? [Bg2] könnte sich auf g6 geopfert haben, aber [Bf2] kann nicht mehr verschwinden.

Die andere Möglichkeit erscheint auf den ersten Blick noch unwahrscheinlicher: Bh7xXg6xYf5 (!) und Th8-h6-a6 — demnach stünde auf f5 nicht der [Bf7], sondern [Bh7] — und auch dafür würde der freie schwarze Zug benötigt.

Dann aber funktioniert das Opfer der beiden weißen Bauern, z.B. Bg6xBf5 und Bf7xBg6, denn wenn Bf5 wirklich von h7 kommt, muss ja die Bauernstruktur wiederhergestellt werden!

Und damit ist auch klar, was mit [Bb2] und [Bc2] geschehen ist: Die müssen beide auf b8 umgewandelt haben (dazu geschah auch Bc6xb7), um sich dann auf dem Königsflügel zu opfern bzw. weiße Originalsteine zu ersetzen, die sich dort geopfert haben. Letzteres funktioniert aber nicht, da nun Weiß dafür keine Zeit mehr hat: Die Umwandlungen erfordern zehn Züge, die aktiven Opfer der Königsflügel-Bauern fünf — und so bleiben nur noch vier Züge für die Figurenopfer auf dem Königsflügel übrig. Damit ist klar, dass wir es mit zwei weißen Ceriani-Frolkin-Steinen zu tun haben.

Mit diesem Wissen ist es nun nicht mehr schwer, die genaue Lösung auszuarbeiten:

1.c4 Sc6 2.c5 Sd4 3.c6 e5 4.cxb7 c5 5.b8=D Lb7 6.Dd6 Tc8 7.Dg6 hxg6 8.f4 Th6 9.f5 gxf5 10.b4 Ta6 11.b5 Lc6 12.b6 Sb5 13.b7 Db6 14.b8=D Kd8 15.Dd6 Tc7 16.Dh6 gxh6 17.g4 Lg7 18.g5 Lh8 19.g6 fxg6.

Haupt-Thema sind also die bei Schwarz zyklisch vertauschten „Betrüger-Bauern“ f-g-h-f, die aber nur wegen des Zeitdrucks schlagen mussten: Mit mehr Zügen ließe sich diese Stellung legal auch komplett ohne schwarze Bauernschläge erspielen.

Da kann ich nur Preisrichter Andrej Frolkin zustimmen: „Beweispartie mit zyklischem Linientausch schwarzer Bauern, die dabei u. a. zwei CF-Damen schlagen. Recht ungewöhnlich und hübsch.“

2 thoughts on “Retro der Woche 29/2015

  1. Eine tolle BP mit (damals) hochoriginellem Inhalt in perfekter Umsetzung. Aus meiner Sicht wurde sie im PB zu niedrig bewertet. Ich halte sie nach wie vor sogar für fidealbumwürdig.

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