Retro der Woche 17/2015

Besonders gern mag ich Beweispartien mit echtem Überraschungseffekt, und ich erinnere mich noch genau, wie ich mir die heutige Aufgabe begeistert angeschaut hatte, nachdem ich im Preisbericht von Hans Gruber schon die ersten Worte gelesen hatte: „Believe it or not: …“

Schauen wir uns doch einmal an, was diesen so erfahrenen Retro-Preisrichter überrascht hat.

Nicolas Dupont
The Problemist 2009-2010, 2. Preis
Beweispartie in 24.5 Zügen (14+15)

 

Wir sehen nur zwei weiße Züge, aber auffällig ist natürlich sofort der dritte schwarze Springer. Der muss aus dem fehlenden [Bb7] oder [Bc7] entstanden sein — irgendwo zwischen a1 und e1, da bei Weiß ja nur zwei Steine, nämlich [Ba2] und [Bc2], fehlen. c1 scheidet natürlich als mögliches Umwandlungsfeld aus wegen des eingemauerten [Lc1].

Direkte Bauernschläge sind im Diagramm nicht sichtbar, die Anzahl der weißen sichtbaren Züge ist nicht wirklich hilfreich, also betrachten wir die schwarzen Züge.

Vernachlässigen wir erst einmal den sSg6 beim Zählen (die beiden anderen Springer konnten ihr Standfeld in jeweils einem Zug erreichen), so kommen wir auf 1+2+2+3+2+6=16. Dies setzt bereits die schwarze kurze Rochade voraus. Hinzu kommen fünf Züge für die Umwandlung, so dass für den umgewandelten Springer noch genau die drei Züge übrig bleiben, die er von der ersten zur sechsten Reihe benötigt.

Damit ist klar, dass Sg6 wirklich der Umwandlungsspringer ist (anderenfalls brauchte Schwarz mindestens einen Zug mehr), und klar ist auch, dass er auf einem schwarzen Feld umgewandelt hat; es kommen also prinzipiell als Umwandlungsfelder nur a1 und e1 in Frage. a1 scheidet aber sofort wieder aus, da Sa1 nicht in drei Zügen nach g6 gelangen kann.

Also kann der Springer nur auf e1 entstanden sein — und er entstand wegen der nur zwei fehlenden weißen Steine aus [Bc7]. Also müssen [Ba2] und [Bc2] umgewandelt haben, da sie vom [Bc7] nicht direkt geschlagen werden konnten.

Dabei fanden die Umwandlungen auf b8 und c8 statt: Ba6xb7 war erforderlich, da [Bb7] nicht hat ziehen können; dies ist der einzige fehlende schwarze Stein und [Ba2] konnte anders nicht die achte Reihe erreichen.

Nun können wir einige Überlegungen zur Reihenfolge der schwarzen Züge anstellen: Ziemlich früh musste sTa8-a5-h5 erfolgen; vorher allerdings musste wBa2-a6xb7 und sBa7-a4 passiert sein. Ebenso mussten sDf3 und sLh3 ihre Plätze erreichen, bevor f5, Sf6 und OO erfolgen konnten.

Irgendwie musste aber wKe1 Platz für den Umwandlungsbauern machen — und dafür muss er mindestens bis auf die g-Linie ausweichen, da er auf f1 durch sBe2 im Schach stünde.

Vielleicht kommt ihr nun auf den richtigen Einfall, vor allen Dingen, wenn ihr an Hans’ Einleitung seines Preisbericht-Kommentars denkt: „Sollte vielleicht Weiß rochiert und die Rochade dann zurückgenommen haben („Antirochade“) und vorher [Lf1] und [Sg1] auf d3 und e2 geopfert haben? Völlig absurd, dann stünden ja nun auf f1 und g1 Umwandlungssteine!“ Aber wir denken dran, dass Weiß sowieso zwei Umwandlungen brauchte, und zählt man die weißen Züge unter diesen Voraussetzungen, kommt man mit Umwandlungen c8=L und b8=S genau hin…

Und das ist die faszinierende Lösung:

1.e3 c5 2.Ld3 c4 3.Se2 cxd3 4.OO dxe2 5.a4 e1=S 6.a5 Sd3 7.a6 Sf4 8.axb7 a5 9.c4 a4 10.c5 Ta5 11.c6 Th5 12.c7 Sc6 13.b8=S d5 14.Sd7 g5 15.Se5 Sg6 16.Sf3 e5 17.g3 Df6 18.Kg2 Le7 19.Th1 Ld8 20.Sg1 Df3+ 21.Kf1 Lh3+ 22.Ke1 f5 23.c8=L Sf6 24.La6 OO 25.Lf1.

Die Lösung wurde für mich noch faszinierender, als ich untersuchte, warum denn nicht statt der weißen Rochade und deren komplizierter Rücknahme mit insgesamt fünf Zügen einfach das Ausweichen des [Ke1] nach g1 mit Rückkehr ausreicht: Das spart doch einen weißen Zug?

Das Problem sind aber die schwarzen Züge: Schwarz kommt dann nämlich in Zugnot, da Weiß zur Flucht zwei Züge benötigt, bei der Rochade aber nur einen. Und dann passt es nicht mit dem Durchlassen des [Bc2] bis c7, bevor Sc6 gespielt werden muss… Weiße Rochade also wegen schwarzer Zugnot!

Ein tolles Ding!!

2 thoughts on “Retro der Woche 17/2015

    • Ich teile Henriks Abneigung gegen aufdringliche Umwandlungsfiguren, aber es kann eben trotzdem gute Probleme mit einem solchen Makel geben, deren positive Seiten man würdigen kann. Die angemessene Abwägung der Vorzüge und Krücken ist eine schwierige Angelegenheit, bei der qualifizierte Preisrichter zu unterschiedlichen Urteilen kommen können.

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