Retro der Woche 43/2014

Gelegentlich wird in Auflöse-Retros nicht einfach nur das „Löse auf!“ gefordert, sondern eine konkrete Frage zur Stellungsentstehung gestellt.

U.a. Wolfgang Dittmann hat darauf hingewiesen, dass solch eine Frage versteckte Bedingungen an die Auflösung enthalten kann, z.B. bei der Frage „Kürzester Weg der sD?“ Denn eine Auflösung mit längerem Weg dieser Dame könnte eine Nebenlösung enthalten oder völlig uninteressant sein. So etwas entwertet natürlich eine Aufgabe nicht, man sollte sich der Bedingung aber bewusst sein.

Auch Nikolai Beluchow stellt in der heutigen Aufgabe solch eine Frage – ist dies auch eine implizite Bedingung?

Nikolai Beluchow
Die Schwalbe 2010, 4. Preis
Letzter Zug des schwarzen Königs? (14+12)

 

Der Lackmustest ist zu versuchen, die Forderung Sinn-erhaltend umzuformulieren: „Löse auf unter der Bedingung, dass die sD den kürzesten Weg nimmt.“ Damit haben wir das Beispiel als Bedingungs-Frage entlarvt. Das klappt bei Nikolai’s Stück nicht: „Löse auf unter der Bedingung, dass der sK mindestens einmal gezogen hat.“ ist keine Einschränkung, denn der sK hat ja offensichtlich schon mehr als einmal gezogen.

Hier fokussiert der Autor also ausschließlich auf eine vielleicht besonders interessante Frage der Auflösung, betont, dass die Antwort eindeutig sein soll – und führt den Löser auf einen wesentlichen Inhalt der Aufgabe.

Betrachten wir wie üblich die Schlagbilanz:

Schwarz hat zwei offensichtliche Schläge ausgeführt (f:e, g:f) , und damit sind die fehlenden weißen Steine erklärt. Weiß hat zwei offensichtliche Bauernschläge (a:b, b:c), ferner offensichtlich in seinem letzten Zug auf b7 geschlagen; damit ist noch ein Schlag offen.

Bei Weiß fehlen die [Bg2] und [Bh2], die müssen sich also umgewandelt haben. Dafür bedarf es eines weiteren Schlags, nämlich h:g, und damit sind auch alle weißen Schläge erklärt.

Preisrichter Thierry Le Gleuher erklärte den prinzipiellen Lösungsverlauf: „Dies ist ein gefälliges Problem mit einem recht versteckten Retroschlussspiel, das es – trotz der nicht übermäßig großen Anzahl von Zügen – schwer zu lösen macht. Die Stellung kann nur aufgelöst werden, indem ein Stein auf a5 gestellt wird. Der wS kann nicht rechtzeitig dorthin gespielt werden, und auch kein anderer auf e oder f entschlagener weißer Stein (wL oder wS), weil die sBB wegen der weißen Umwandlungen auf g8 blockiert sind. Also muss ein sS entschlagen werden und nach a5 gebracht werden. Aber der Königskäfig öffnet sich anschließend trotzdem nicht leicht.“

R 1.Lc8:Tb7+ e4-e3 2.Sh6-f7 h3-h2 3.Sg8-h6 h4-h3 4.g7-g8=S h5-h4 5.g6-g7 h6-h5 6.h5:Sg6 Sf4-g6 7.h4-h5 Sg2-f4 8.h3-h4 Se3-g2 9.c3-c4 Sc4-e3 10.h2-h3 Sa5-c4 11.Kb4-a4 h7-h6 12.Ta4-a3 a3-a2 13.a2:Lb3! (Deswegen musste am Anfang auf b7 kein Läufer, sondern ein Turm entschlagen werden) 13.– Ld5-b3 14.Kb3-b4 Sc4-a5++ 15.Tb4-a4+ Kb5-a6! (denn nach 15.– Ka5-a6? wäre Weiß retropatt) 16.Ta4-b4+ usw.

Hans Gruber als Löser: „Da keine wUW auf sFeld erfolgt und wLd8 noch eingekeilt ist, kann die Auflösung nicht durch Rücknahme von b2-b3 erfolgen, sondern nur durch Rücknahme von Kb4-a4, nachdem ein Schild nach a5 gestellt wurde. Dies muss ein sS sein. Das ist wirklich lustig, dass die ganze Zeit Schwarz in Zugnot ist, und plötzlich ist es Weiß! Eine tolle Begründung für den eindeutigen Königszug!“

Und auch Mario Richter war sehr angetan: ”Insbesondere hat mir gut gefallen, dass der einleitende Entschlag nicht wie oft üblich offensichtlich ist, sondern sich nur erschließt, wenn man schon eine konkrete Vorstellung von der kompletten Auflösung hat.“

Ja, ein klasse klassisches Retro, das mir damals auch sehr viel Freude gemacht hat!

11 thoughts on “Retro der Woche 43/2014

  1. Urs, vielleicht hilft es hier, den Begriff der “Bedingungsökonomie” zu verwenden. Das heißt nicht, daß man gar keine (Zusatz-)Bedingungen verwenden soll; aber es bedeutet, daß die “Investition” solcher Bedingungen erst mal wettgemacht werden muß durch einen entsprechend höheren Ertrag. Dann kann man allerdings noch darüber streiten, ob manche Investitionen so groß sind, daß sie nie wettgemacht werden können. Ich persönlich habe da bestimmte Sperren bezüglich der Verwendung unthematischer Umwandlungsfiguren als konstruktive Krücken; und Wolfgang Dittmann hat eine solche Sperre bezüglich extremer Zusatzbedingungen. So schreibt er in “Der Blick zurück” auf Seite 102 (Fußnote) bezüglich mancher Probleme von Smullyan: “(…) und viele ähnliche Klauseln für eine Auflösung werden dort zwar in freundliche Geschichten verpackt, verwandeln aber die Idee eines ästhetisch anspruchsvollen Schachproblems in ein grob konstruiertes Rätsel.” Ganz unabhängig davon gefallen mir die (Schach-)Bücher von Raymond Smullyan aber sehr gut. Durch sie bin ich überhaupt erst zur Retroanalyse gekommen, und ich empfehle seine Bücher auch heute noch gerne.

    • bernd, danke für diese weiteren ausführungen! sie sind einleuchtend, und es könnte lohnend sein, sich darüber in bezug auf bestimmte aufgaben weiter auszutauschen. ein wenig haben wir ja diese ganze diskussion schon in andernach angefangen, speziell in bezug auf die frage, inwiefern und inwieweit nichtthematische umwandlungsfiguren den wert einer aufgabe mindern.
      grundsätzlich ist es natürlich vor allem im zusammenhang mit wettbewerben wichtig, dass die preisrichter gewisse maßstäbe zur beurteilung haben und diese den teilnehmenden komponisten auch bekannt sind. es ist aber nicht von der hand zu weisen, dass das wie jede normierung auch zu einengungen führen kann, die einer gesunden narrenfreiheit abträglich sind. und für narrenfreiheit bin ich eigentlich immer zu haben…

      • Urs, ich schätze ebenfalls Narrenfreiheit. Andererseits sollten Preisrichter Begründungen für ihre Urteile geben. Da nicht alle Preisrichter genau dieselben Maßstäbe anlegen, ist es sicherlich hilfreich, wenn bekannt ist, worauf ein konkreter Preisrichter wert legt.
        Es gibt aber auch einen sehr einfachen Ausweg aus dieser Debatte (der wohl etwa von Chris Feather bevorzugt würde): Als Komponist sollte man Preisberichte und Auszeichnungen nicht zu wichtig nehmen…

  2. darf ich es mir wohl erlauben, meine ansicht derjenigen der “hohen” herren preisrichter (b.g. und t.b.) entgegenzusetzen:
    mich stören nebenbedingungen nicht im geringsten, wenn die zugehörige aufgabe reizvoll ist. warum sollten bedingungen dann wertvermindernd sein?!
    beispiele für retroaufgaben (meist mit nebenbedingungen), denen ich viel abgewinnen kann, finden sich z.b. in den beiden retrobüchern von raymond smullyan, “die schachgeheimnisse des kalifen” und “schach mit sherlock holmes”.

    • Hallo Urs,

      mich lehne solche Bedingungen auch nicht prinzipiell ab, ich mag auch die Smullyan-Sachen oder die erwähnten Rekordjagden bei Ceriani-Frolkin.

      Allerdings sollte man im Vergleich mit Aufgaben ohne solche Konstruktionserleichterungen genau dies berücksichtigen: Man täte ja einem Hochspringer sicher Unrecht, vergliche man seine Leistung mit der seines Kollegen, der als kleines Hilfsmittel für seinen Hochsprung einen Glasfiberstab benutzt…

      Und nicht mehr wollte ich sagen: Eine Fünffachsetzung des CF-Themas ist sicherlich nicht unbedingt “wertvoller” als eine Dreifachsetzung, wenn die erste Hilfsmittel (=Nebenbedingungen) verwendet und die zweite nicht. Aber beides kann ich bewundern: zwei Meter “ohne” und sechs Meter “mit” Hilfsmittel im Hochsprung.

      • lieber thomas,
        gerne knüpfe ich an dein bild des “unbewaffneten” hochspringers und des stabhochspringers an. in die höhe springen “mit” und “ohne” sind für mich zwei verschiedene tätigkeiten, von denen ich keine höher stellen möchte als die andere. vor allem widerstrebt es mir, den springer mit stab als normalen hochspringer anzusehen, der dank einem hilfsmittel mehr erreicht als dieser. der schritt, sein tun dann doch irgendwie als “faul” oder gar unfair anzusehen, ist möglicherweise dann nicht mehr so fern.
        ich kann verstehen, dass der mensch auf allen gebieten versucht, nur mit seinen natürlichen gaben zu wirken (ich bevorzuge zum beispiel im sport persönlich alles, was keinerlei geräte erfordert, auch keine speziellen klamotten). aber wie ist es z.b. in der musik: ist singen mit der stimme wertvoller als das spielen eines instrumentes? (ich finde dies nicht.)
        kommen wir aber zum schach, speziell zu retroaufgaben zurück. und zwar zu den klassischen, bei denen es immer um eine schachpartie geht. mich dünkt, man könne diese retrorätsel unter folgenden hut bringen: von einer partie werden dem löser gewisse dinge (= m) mitgeteilt, andere soll er herausfinden (= h). bei beweispartien besteht m aus einer stellung und der anzahl von zügen, in welchen diese erreicht worden ist, während h die partie bis zu dieser stellung hin ist. bei auflöseaufgaben ist nur eine stellung geben, während h ein weg ist, auf welchem man zu dieser gelangen kann oder auch “nur” gewisse eigenschaften dieses weges usw. warum soll man nun m auf wenige fälle einschränken? entwickelt man für m fantasie (wie z.b. smullyan das tut), so wird die retrowelt reicher und farbiger, und das schätze ich.

  3. Thomas, ganz selbstverständlich oder “natürlich” ist Deine einleitende Beurteilung “So etwas entwertet natürlich eine Aufgabe nicht, man sollte sich der Bedingung aber bewusst sein.” wohl nicht. Ich würde eher sagen, daß eine nebenlösungsverhindernde Frage eine Aufgabe NICHT VÖLLIG entwertet. Das scheint mir auch Wolfgang Dittmanns Beurteilung zu sein.
    Wenn die Forderung nicht durch ein einfaches “Löse auf!” ersetzt werden kann, ähnelt eine Aufgabe etwas einer mittelalterlichen Bedingungsaufgabe (im abwertenden Sinne).
    Übrigens scheint es mir wichtig, Märchenschachbedingungen von solchen bloß nebenlösungsverhindernden Bedingungen zu unterscheiden: Oft genug sind Märchenschachbedingungen keine Konstruktionserleichterungen, sondern können sogar ein thematisches Konstruktionshindernis darstellen (etwa wenn ein langer Zug trotz Kürzestzügerbedingung durchgesetzt werden muß).
    Für die heutige Aufgabe des Retroblogs sind diese Erwägungen aber irrelevant: Die Forderung könnte auch durch “Löse auf!” ersetzt werden, und die konkrete Frage lenkt nur die Aufmerksamkeit des Lösers auf einen bestimmten Aspekt der Lösung, und das scheint mir sehr passend zu sein. Ein sehr schönes klassisches Retro-Problem!

    • Bernd, da sind wir ja gar nicht unterschiedlicher Meinung: “Entwerten” heißt für mich “Wert auf null setzen” wie bei einer entwerteten Fahrkarte. 🙂 Wir sind uns beide sicher einig darin, dass solche Bedingungen zur Konstruktionserleichterung (oder auch erst -ermöglichung) ganz anders zu bewerten sind als “thematische Märchenbedingungen”, wenn sie denn wesentlich zu Thema und Inhalt der Aufgabe beitragen. Als Beispiel will ich mal die Circe-Rückzüger von Petrovic nehmen.

      Andererseits haben damals hauptsächlich in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die Auflöse-Aufgaben mit minimalem Weg einer Figur, aber dadurch erreichten immensen Steigerungen etwa des Ceriani-Frolkin-Themas auch bewirkt, dass sich einige Komponisten intensiv mit der “bedingungslosen” Darstellung solcher Themen beschäftigt haben und damit tolle Aufgaben gebaut haben.

      • Thomas, danke für die Klärung bzgl. “entwerten”! Dann sind wir uns ganz einig (was ich eigentlich auch vermutet hatte…)! 🙂

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