Retro der Woche 47/2017

Der in diesem Jahr im Alter von 97 Jahren verstorbene Raymond Smullyan (siehe auch das letzte Für zwischendurch) hat sehr viel zur Popularisierung der Retroanalyse beigetragen: Viele haben ihren ersten Kontakt zu unserer Lieblings-Problemart durch die Übersetzung seiner Bücher ins Deutsche („Schach mit Sherlock Holmes“ und „Die Schachgeheimnisse des Kalifen“, beide im Otto Maier Verlag Ravensburg als Taschenbuch erschienen und beide nur noch antiquarisch zu bekommen.) gefunden, in denen er die Aufgaben in kleine Geschichten eingebettet hatte.

Einige Retro-Experten schätzen ihn als Komponisten nicht sehr hoch ein, da er für seine Aufgaben häufig Randbedingen nutzte, die eher an mittelalterliche Wett-Aufgaben als an modernes Problemschach erinnern. Im Sinne der Popularisierung sind solche Rätsel sicher nicht verkehrt — und er konnte auch gute „klassische“ Retros komponieren, von denen ich heute ein nicht allzu schwer zu lösendes vorstellen möchte.

Raymond Smullyan
The Chess Mysteries of Sherlock Holmes 1979
Welche Figur steht auf h4? (10+10+1)

 

Beginnen wir wie üblich mit Überlegungen zur Schlagbilanz. Die sind hier zunächst etwas schwieriger, da wir über die Farbe des Steins auf h4 nichts wissen, wir also für genau eine Farbe sechs, für die andere fünf Schläge haben.

Beginnen wir mit Schwarz: dort sieht man sofort bxa6 und f7xe6xd5xc4, das macht vier Schlagfälle. Bei Weiß sieht man anhand der Bauernkonstellation zunächst keinen Schlag, aber kann doch sehr schnell fünf Schläge ermitteln:

Einerseits wurde offensichtlich [Lf8] zu Hause geschlagen, andererseits kann das Schach gegen den schwarzen König im Diagramm nur durch c7xXd8=T+ erklärt werden. Dieser Turm ist offensichtlich aus [Bf2] entstanden, der also via die c-Linie vier Schläge brauchte, um auf d8 umzuwandeln.

Was kann denn das ‘X’ sein, welcher Stein konnte denn auf d8 geschlagen worden sein? Dame und Turm scheiden aus, da sie den weißen König in ein illegales Schach stellen würden, das auch nicht durch einen Abzug (auch nicht durch unseren unbekannten Freund auf h4) erklärt werden könnte. Also wurde auf d8 ein Läufer oder ein Springer geschlagen.

Beide Schlagmöglichkeiten setzen eine schwarze Umwandlung voraus: Entweder hatten wir vor dem Schlag auf d8 drei schwarze Springer auf dem Brett oder einen schwarzfeldrigen Läufer; auch letzterer kann — siehe f8 — nicht der Originalläufer sein.

Damit können wir nun schon die Farbe des unbekannten Steins bestimmen: sT und sD scheiden aus, da sonst beide Könige gleichzeitig im Schach stünden. Ein sB scheidet ebenfalls aus, da der einzig fehlende sB sich ja umgewandelt haben muss, wie wir gesehen haben. Und damit scheidet auch ein sS oder sL aus: Das wäre wiederum ein Umwandlungsstein, aber da sieben schwarze Bauern auf dem Brett stehen, kann es keine zweite Umwandlung gegeben haben.

Damit sind alle schwarzen Möglichkeiten für h4 ausgeschlossen; auf h4 steht also („tertium no datur“) ein weißer Stein. Offensichtlich ist es kein Bauer: Der einzig im Diagramm fehlende weiße Bauer hatte sich schließlich auf d8 umgewandelt.

Nun schauen wir uns die schwarze Umwandlung noch genauer an: Der Stein muss durch [Bh7] erwandelt sein, eine schlagfreie Umwandlung auf h1 scheidet offensichtlich wegen [Bh2] aus. Also hat [Bh7] mindestens einmal geschlagen. Öfter geht auch nicht, da dies der fünfte Schlag durch Schwarz ist und Weiß elf Steine auf dem Brett hat. Also fand die Umwandlung auf g1 statt.

Können wir auch bestimmen, wo hxg stattgefunden hat? wBg3 kann nur von g2 kommen: Käme er von f2, bedingte dies einen zusätzlichen Schlag sowie einen weiteren Schlag, damit dann [Bg2] sich auf d8 umwandeln könnte. Das wären dann sieben — so viele Schläge stehen aber Weiß nicht zur Verfügung. Also hat der Schlag auf g2 stattgefunden.

Hilft uns dieses Wissen weiter bezüglich der Art des weißen Steins auf h4? Ja — es ist sogar der Kern der Lösung! Schauen wir uns nämlich die Felder an, auf denen Schwarz geschlagen hat (a6, c4, d5, e6, g2), so stellen wir fest, dass diese Felder alle weiß sind. Auf diesen Feldern wurden alle fehlenden weißen Steine geschlagen. Darunter kann sich allerdings wegen seiner Felderfarbe [Lc1] nicht befunden haben. Daher kann [Lc1] nicht geschlagen worden sein — er steht also auf h4!

Ich finde, eine sehr schöne Aufgabe, die auch Noch-nicht-Retroexperten die Art und Vielfältigkeit der Retro-Überlegungen sehr schön nahe bringen kann.

5 thoughts on “Retro der Woche 47/2017

  1. Dieses Smullyan-Problem bespreche ich übrigens in dem folgenden Aufsatz: “To Know the Past One Must First Know the Future: Raymond Smullyan and the Mysteries of Retrograde Analysis”, in: Philosophy Looks at Chess, ed. by Benjamin Hale (2008), S. 1 – 12 (ISBN: 978-0-8126-9633-2). Bei Amazon gibt es dazu einen “Blick ins Buch”/”Look inside”.

    • Dank an Bernd für den interessanten Hinweis! Das erwähnte Buch ist übrigens noch erhältlich, bei Amazon auch als Kindle-Edition. Und in der angesprochenen Buch-Vorschau kann man den kompletten Aufsatz am Bildschirm lesen …

      • Naja, man kann nicht meinen GANZEN Aufsatz in der Vorschau von Amazon lesen, sondern nur ca. 8 von 12 Seiten. Auf den weiteren Seiten bespreche ich dann u.a. noch eine sehr gute moderne Beweispartie von Aschwanden/Caillaud/Wilts (PDB: P1013138) und ein paar philosophische Implikationen.

      • Hmm, das ist ja kurios: Ich konnte in “meiner” Vorschau bis einschließlich Seite 11 alles lesen (einschließlich der Beweispartie und den Anmerkungen z.B. zu G.E. Moore), sodass ich vermute, dass schlimmstenfalls das Literaturverzeichnis auf Seite 12 noch fortgesetzt wird, wenn die Seite nicht “intentially left blank” ist?!

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