Retro der Woche 39/2014

Bei Beweispartien-Zwillingen, in denen die beiden Phasen unterschiedliche Länge haben, finde ich die Suche nach dem Motiv für die erforderlichen Tempoverluste interessant – und, wie sie dann realisiert werden.

So auch bei dem heutigen Stück, in dem sich die beiden Teile um genau einen Halbzug unterscheiden, im Teil b) muss Weiß einen Zug mehr durchführen als Schwarz. Dass die b)-Fassung keine „kürzeste“ Beweispartie sein kann, ist klar – eher könnte man diese Zwillingsbildung mit Satzspielen vergleichen: Und da wir bei Retros sind, wird der zusätzliche Zug natürlich nicht am Anfang, sondern am Ende angefügt …

Dirk Borst
Probleemblad 2007
Beweispartie in 11 Zügen b) Beweispartie in 11,5 Zügen (14+15)

 

Zählen wir die schwarzen Züge, so stellen wir fest, dass alle auf dem Brett sichtbar sind, dass Schwarz rochiert haben muss, damit er seine Steine in elf Zügen auf die Zielfelder bekommen konnte; wir haben also 2+2+1+2+1+3=11 Züge bei Schwarz.

Gleichzeitig erkennen wir, dass [Bd7] zu Hause geschlagen werden musste, da er ja keinen Zug machen konnte. Warum übrigens können wir Xxe7 und dann später d7xe6 sofort ausschließen?

Damit liegt bereits die genaue Reihenfolge der schwarzen Züge fest – und wir sehen, dass diese Überlegungen sowohl für a) als auch für b) gelten, da Weiß jeweils in seinem dritten Zug auf d7 schlagen muss und der Schlagtäter dann sofort von der schwarzen Dame vom Brett genommen werden muss.

Beide fehlenden weißen Steine können aus der Partieanfangsstellung heraus in drei Zügen d7 erreichen. Die Frage ist dann natürlich, wo der andere Stein dann geschlagen werden konnte?

Wollen wir mit [Sg1] auf d7 schlagen, werden wir den [Lf1] nicht so leicht los: Um ihn von der Dame oder von [Lc8] schlagen zu lassen, kommt er immer zu spät, und damit kann er sich nur auf g8 noch opfern – das aber erfordert genau 1+0+0+6+3+1=11 Züge.

Damit haben wir die a)-Lösung. Aber warum funktioniert die nicht in b) – schließlich kann Weiß doch auf g4 einen Zwischenstop für seinen Läufer einlegen und damit ein Tempo verlieren?

Das klappt nicht, weil Schwarz in seinem 11. Zug den Läufer schlagen muss – mit dem Zwischenstop käme er aber in seinem 12. Zug auf g8 an; das kann also nicht klappen.

Also müssen wir uns eine ganz andere Strategie für Weiß überlegen – und die fand ich, als ich die Aufgabe zum ersten Male sah, sehr überraschend!

a) 1.Sf3 h5 2.Se5 h4 3.Sxd7 Dxd7 4.g3 Dh3 5.Lg2 Lf5 6.OO e6 7.Lf3 Ld6 8.Lh5 Se7 9.Lg6 OO 10.Lh7+ Kh8 11.Lg8 Txg8 und b) 1.g3 h5 2.Lh3 h4 3.Lxd7+ Dxd7 4.Sh3 Dxh3 5.Tg1 Lf5 6.Tg2 e6 7.Kf1 Ld6 8.Kg1 Se7 9.Kh1 OO 10.Tg1 Kh8 11.Tf1 Tg8 12.Kg1

Weiß muss sich in b) also so schnell wie möglich von seinem überflüssigen Stein trennen – in a) erst im letzten Zug! Und dann macht Weiß acht Züge lang nicht Anderes als künstlich zu rochieren – das fand ich sehr originell und verblüffend!

Stört euch übrigens, dass Schwarz hier in beiden Fassungen identische Züge, und das auch noch in der gleichen Reihenfolge macht? Normalerweise ist das nicht besonders interessant, hier aber finde ich das sogar positiv, da sie herrlich im Kontrast zu den völlig unterschiedlichen Strategien bei Weiß (natürlich mit Funktionswechsel der beiden fehlenden Steine) stehen. Aber das ist nur mein persönlicher Geschmack, nur meine Meinung…

4 thoughts on “Retro der Woche 39/2014

  1. I agree; the identical black play (except for which white men are captured where) does not bother me, either. Technically, perhaps identical black play is easier to construct than non-identical black play.
    Dawson invented the proof game genre a century ago, but nothing much happened before Caillaud rediscovered it around 1980. It is really amazing that so much diversity and beauty has been shown in the genre during the last 25 years, and there is more to come, indubitably.

  2. lieber thomas,
    wie du ja weißt, schätze ich es sehr, dass du immer mal wieder etwas einfacheres bringst, das dann auch in meiner reichweite liegt. so konnte ich hier beide lösungen ohne hilfe finden, was mich erfreute.
    lustigerweise fiel mir übrigens die 11.5-züge-lösung zuerst ein; die 11-zügige folgte dann nach!
    mir gefällt die aufgabe gut, und die identität der schwarzen züge in den beiden fällen stört mich nicht.
    das gleiche gilt für das ebenfalls hübsche problem von bernd. dort spricht mich besonders an, dass – und natürlich v.a. warum (vermeidung eines schachgebotes an den sK) – die rundtour der wDd1 nur in einer richtung erfolgen kann!

  3. Man vgl. dazu mein Problem P1091679 (das im Preisbericht für die Retros von Quartz 2007-2009 das 5. Lob erhielt). Auch dort führt Schwarz in beiden Phasen dieselben Züge durch, aber Weiß ist durch die unterschiedlichen Längen der Beweispartien zu zwei sehr unterschiedlichen Strategien gezwungen. Mich würde auch bezüglich dieses Problems interessieren, wie die Leser des Retroblogs diese wiederholten Züge beurteilen!

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