Retro der Woche 40/2016

Auf der Schwalbe-Tagung in Güstrow habe ich am gestrigen Samstagabend einen kleinen Vortrag zum Thema „Retro-Retraktoren“ gehalten. Den kurios erscheinenden Titel muss ich kurz erklären: Bei vielen Verteidigungsrückzügern (VRZ) zeigt die Lösung interessantes strategisches Spiel, das das „Rückwärts-Ziehen“ natürlich ausnutzt -– echte Retroanalyse ist jedenfalls oft kaum Inhalt der Aufgaben.
Andererseits gibt es auch VRZs, bei denen die Lösung stark von der Retroanalyse der Stellungen abhängt. Einige solcher Aufgaben, die den Retro-Charakter der Lösung besonders betonen, habe ich gestern im Vortrag präsentiert; ein recht einfaches, aber sehr instruktives Beispiel möchte ich heute hier vorstellen.

Joaquim Crusats & Andrej Frolkin
Quartz 2010
-3 & #1, VRZ Proca (11+9)

 

Wir erinnern uns: Beim Verteidigungsrückzüger nehmen beide Seiten abwechselnd legal einen Zug zurück. Weiß versucht, die Vorwärtsforderung (hier also ein Matt in einem Zug) vor in unserem Fall drei Zügen zu erreichen, d.h. nach der Rücknahme seines dritten Zuges will er in einem Zug mattsetzen können. Schwarz versucht dies zu verteidigen. Beim Typ Proca bestimmt die zurücknehmende Partei, ob ihr Zug einen Schlag beinhaltete und welcher gegnerische Stein geschlagen wurde – natürlich unter Beachtung der Legalität der Stellung.

Schauen wir uns nun die Diagrammstellung etwas genauer an.

Alle fehlenden weißen Steine sind durch schwarze Bauernschläge erklärt: sBd3 ist [Ba7], und einer der beiden schwarzen Bauern auf der e-Linie kommt von g7.

Bei Schwarz fehlen sieben Steine, sechs davon wurden durch weiße Bauern geschlagen: axb, cxd, dxexf, exf und hxg.

Nun schauen wir uns den Hauptplan des Weißen an: R 1.Tf1-f2 beliebig, 2.0-0 & vor: 1.Th8#.

Schwarz kann nicht mit seinem König fliehen: 1.– Ke8/Ke7 wäre illegal, da Weiß das Schach nicht aufheben kann; das gilt auch für Kg7-f8, denn Weiß kann nicht, wie wir gerade gesehen haben, g5xXf6+ zurücknehmen. Und 1.– Kg8-f8 wäre einfach dumm, da Weiß beliebig zurücknimmt und dann bereits nach zwei Zügen mit Te8# den Kampf beendet.

„Mechanisch“ kann Schwarz den Hauptplan nicht verhindern, aber retroanalytisch: Er nimmt nämlich 1.– Bd7-d6! zurück. Wieso um alles auf der Welt soll das verteidigen? Offensichtlich wurde nach dieser Rücknahme [Lc8] zu Hause geschlagen, alle anderen fehlenden schwarzen Steine wurden dann von weißen Bauern geschlagen – auch der [Bh7]. Das konnte nicht direkt geschehen, sondern der musste umwandeln. Das aber musste schlagfrei erfolgen, also auf h1. Demnach muss [Th1] schon gezogen haben, demnach ist dann die Rücknahme der weißen kurzen Rochade illegal – Weiß kommt nicht weiter.

In seinem einzügigen Vorplan illegalisiert Weiß nun genau diese Rücknahme d7-d6:
R 1.Bb5xLa6! — wieso? Nähme Schwarz nun seinen Lieblingszug zurück, wäre La6 ein Umwandlungsläufer. Der könnte nur auch dem schlagfrei umwandelnden [Bh7] entstanden sein wie auch schon vorher – aber nun muss dieser Bauer in einen Läufer umwandeln. Der aber hätte sein Umwandlungsfeld h1 – siehe [Bg2] – niemals verlassen können, geschweige nach a6 gelangen können. Also ist diese Rücknahme illegal und damit das Argument „Weiß darf nicht rochieren, da er seinen Turm schon gezogen hat“ hinfällig. Damit schlägt dann der Hauptplan durch: 1.– bel. 2.Tf1-f2 bel. 3.0-0 & vor: 1.Th8#.

Und warum geht nicht R 1.Bb3xa4? Weil Schwarz dann 1.– Lb5-a4 und 2.– Bd4-d3! zurücknimmt und damit die weiße Rochade verhindert. Woran die beiden anderen möglichen Entschläge des [Lc8], nämlich R 1.Bc4xLd5? und R 1.Be2xLf3? scheitern, findet ihr sicher selbst heraus?!

Wahrscheinlich im Dezember-Heft der Schwalbe wird eine erweiterte Fassung meines gestrigen Vortrags erscheinen. Wer bis dahin nicht warten möchte, dem empfehle ich einen Blick in das Septemberheft 2016 des Problemist: Dort hat Bernd Gräfrath in den „Selected Retros“ (dort H1) ebenfalls einen „Retro-Retraktor“ vorgestellt. Als er den Beitrag schrieb, ahnte er von meinem Vortrag noch nichts! Übrigens ist der Verfasser nicht zufällig Joaquim Crusats: Er und Andrej Frolkin haben sich in den letzten Jahren intensiv mit retroanalytisch dominierten Verteidigungsrückzügern beschäftigt – meist in „neudeutscher“ Logik und Zweckreinheit wie in unserem heutigen Beispiel und auch in der erwähnten Problemist-Aufgabe.

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